Glückliche und wehmütige Tage
in Sondershausen von einst
Erinnerungen an Kindheit, ehemalige Schulkameraden und an die alte Burgstraße
VON
HUBERT APPENRODT
Zu
sehen ist die alte ehrwürdige Burgstraße in unserer kleinen beschaulichen
Stadt, die, von der Hauptstraße abzweigend, zum lichthellen Markt hinaufführt,
jedoch wegen der großen Häuserschatten immer ein wenig düster wirkt. Den
Häusern auf beiden Seiten ist durch ihre Lage tagsüber nach wie vor wenig
Sonnenlicht gegönnt.
In
der Burgstraße wohnte einst auf der linken Straßenseite hochoben in einem
betagten grauen Haus mit seiner Mutter unser Schulkamerad Bernd. Die Haustür
knarrte stets beim Öffnen, das uralte Holz der Treppenstufen ebenso. Die kleine
Mansardenwohnung mit Wohn- und Schlafstube war dann über einen uralten steilen
Treppenaufgang erreichbar und erinnerte beim Heraufgehen wegen seiner
wendelgangähnlichen Windungen eher an einen geheimnisvollen Turmaufstieg. Wir
versuchten immer leise und unauffällig nach oben zu gelangen. Wir wollten
nicht, daß sich die Türen öffneten und hellhörige Hausbewohner, eine kleine
Kinderschar ist im Haus, neugierig nach unserem Wohin und Wozu fragten.
Hin
und wieder erledigten wir gemeinsam bei Bernd unsere Schulaufgaben, lästerten
oft über die seltsame Welt der Erwachsenen, oder wir spielten leidenschaftlich
Karten. Brachen wir am Nachmittag von hier aus mit zwei, drei anderen
Mitschülern zu unseren kleinen Stadt-, Park- und Waldabenteuern auf,
durchquerten wir oft den großen, verwinkelten Innenhof zwischen den
Häuserzeilen der Burg- und denen der Hauptstraße mit vielen aneinandergereihten
dunklen Holz- und Kohlenschuppen, mit einigen kleinen Kaninchenställen
dazwischen. Der Durchgang zur Hauptstraße war auch im Sommer immer kühl, die
Tür zur Straße groß und wuchtig und beeindruckte immer wieder durch ihre
schwere vornehme Schönheit. Wir waren damals jung, wir fühlten uns frisch und
frei, wir waren neugierig auf das Leben, wir waren unbekümmert und rauchten
gemeinsam im Park unsere erste Zigarette – nichts und niemand konnte uns etwas
anhaben.
Auf
der rechten Seite zu Beginn der Burgstraße an ihrem unteren Ende standen einige
kleinere Wohnhäuser, die nach ihrem Abriß auf dem Foto nicht mehr zu sehen
sind. In einer der alten Behausungen wohnte ein anderer älterer Schulkamerad –
Feodor. Seine Mutter schaute oft tagsüber lange Zeit aus dem Fenster heraus.
Verzweiflung und Not hatten zu einem tragischen Geschehen in ihrem Leben
geführt, zum traurigen Verlust ihrer Gehfähigkeit. Sie verließ deshalb fast nie
ihre Wohnung. Feos Mutter war dennoch nicht verbittert. Immer sehr freundlich
zu uns Kindern, hatte sie für jeden von uns stets, vor allem für ihren
Straßennachbarn Bernd, ein nettes Wort.
Die
Jahre der schönen Kindheit vergingen ebenso rasch wie das jugendliche
Frühlingserwachen: wir erlernten verschiedene Berufe. In jedem Leben von uns
gibt es auch zutiefst traurige Stunden. So an einem unglücklichen Tag, an dem
unser Schulfreund Bernd nach einem schweren Motorradunfall sein junges
hoffnungsvolles Leben verlor, mit nur siebenundzwanzig Jahren. Seine Mutter
überwand nie den Verlust ihres einzigen Sohnes. Für sie war seither jeder neue
Tag abermals ein trauriger Tag. Sie freute sich jedoch, wenn sie jemanden von
uns aus dem kleinen einstmaligen Freundeskreis in der Stadt traf und mit ihm
über jene vergangene unbeschwerte Zeit vor dem verhängnisvollen Schicksalstag
sprechen konnte.
Die
Burgstraße gibt es noch immer. Sie weiß viel von ihren alten und neuen
Bewohnern zu erzählen, von ihren Glücks- und Schicksalstagen. Vielleicht träumt
auch sie manchmal von alten Zeiten, als der Fürst mit der hochherrschaftlichen
Kutsche durch seine fürstliche Residenzstadt fuhr, jedoch nie die Burgstraße
hinauffuhr. Dann wacht sie auf, darüber ein wenig verärgert, freut sich jedoch
recht bald wieder an ihrem frischen, neuen Dasein und verzeiht, wie auch wir
verzeihen, den und unseren Schattenseiten des Lebens. Der Fürst dachte
vermutlich nie anders.
Foto:
Die
alte Sondershäuser Burgstraße im späten Nachmittagslicht / Foto: Hubert
Appenrodt
(Foto,
aufgenommen mit einer Praktica-Kleinbildkamera aus Dresden, Kleinbildfilm im
eigenen kleinen Labor entwickelt, das Foto hernach auf Fotopapier gebracht,
alles als Schüler in einigen Sommerferien als Helfer in verschiedenen Kreisstadtbetrieben
erarbeitet)