Acht Wochen Abenteuer
Erinnerungen an Große Ferien in der Schulzeit
Von HUBERT APPENRODT
Letzter Schultag. Wir erhalten unsere Zeugnisse. Kein Unterricht mehr. Die Lehrer lesen Geschichten vor, die wir uns aussuchen durften. Frau Rosenstiel hat ihr Akkordeon mitgebracht. Wir singen alte und neue Volkslieder, Wanderlieder und Wohin soll denn die Reise gehn, ein Pionierlied. Letztes Klingelzeichen für acht Wochen, bis zum Beginn des neuen Schuljahrs im September. Rasch nach Hause. Meine Mutter zeigt sich über mein Zeugnis erfreut. In Betragen eine 3! Muß das sein?
Nach dem Mittagessen auf ins Bergbad. Ich treffe mich mit Schulkameraden auf der Liegewiese. Wir breiten unsere Decken aus. Nebenan sitzen mit angezogenen Beinen die Mädchen, schauen zu uns herüber und kichern. Aufbruch. Kurzes Abkühlen dann mit einem Sprung vom Beckenrand ins Wasser. Brustschwimmen und um die Wette kraulen, auf dem Rücken im Wasser toten Mann spielen. Wer mutig ist, springt kopfüber vom Dreimeterturm.
Langsam lassen die Kräfte nach. Heraus aus dem Becken. Im Laufen alles Wasser aus den Ohren und Haaren schütteln. Auf der Wiese blitzschnell die Dreieckbadehose wechseln. Ein Freund hält dafür hilfreich eine Decke hoch. Die Mädchen kichern dennoch. Alfred winkt ab und sagt: Die sind nun mal so. Wir geben uns überlegen und beachten sie nicht weiter.
Wir strecken uns auf unseren Decken aus, lassen die Sonne auf uns scheinen und schwärmen kindlich von dem, was wir bewundern; von Boxkämpfen und Horst Buchholz in den Glorreichen Sieben. Von Gangstern in Schwarz-Weiß-Filmen, von Cowboys im Westfernsehen, die aus der Hüfte schießen können und treffen. Wir träumen von Kaugummi und Coca Cola und wünschen uns für Schaubude und Bonanza einen besseren Westempfang.
Die Mädchen planschen im Wasser und halten beim Untertauchen die Nase zu. Wir sind hungrig und haben Durst. Alle zum Kiosk. Lange Schlange: eine Brause im Pappbecher, dazu gefüllte Waffeln oder eine Bockwurst mit viel Senf. Wer sich mehr leisten kann, gibt einem anderen etwas ab. Auf der Wiese hinter dem Kiosk ein Schüler aus einer oberen Klasse, viel älter als wir. Mit seiner Freundin, ganz ungeniert unter einer Decke. Seltsames Gebaren. Wir sehen uns an und grinsen, beißen in die Bockwurst und ahnen, wie groß Sehnsüchte sein können.
Noch einmal ins Wasser, noch einmal Ecktappen spielen. Es ist später Nachmittag geworden. Wir ziehen uns an, verabreden uns für den nächsten Tag und schlendern zurück in die Stadt. Zu Hause angekommen: erhöhte Temperatur, bald hohes Fieber. In der Nacht unruhiger Schlaf und Fieberphantasien. Am Morgen spätes Erwachen. Den Sonnenbrand drei Tage auskurieren. Dann wieder gemeinsam mit den Freunden über Wiesen und Felder, die Wälder der Hainleite oder die der Windleite durchstreifen. Waldhimbeeren sind eine Köstlichkeit. Aber nicht so genau hinsehen. Einfach vom Strauch abnehmen und essen. Zum Abend hin auf dem Heimweg an einem Feld halt machen. Kohlrabi stibitzen, an der Lederhose ein wenig abwischen und verzehren. Mundet gut wie eßbarer Sauerampfer. Den finden wir, wenn wir am Ufer der Wipper entlanggehen.
Einen Tag allein sein. Bäuchlings auf einer großen Wiese liegen. Den Kopf ein wenig anheben, mit den Augen gegen das Sonnenlicht blinzeln, Bienen und Schmetterlinge auf Blütensuche beobachten. Im Biologieunterricht bei Herrn Henze haben wir viel über Anatomie und das Leben von Insekten gelernt, über die Schönheit der Natur. Lehrreiche Stunden verwandeln Abneigung vor Ameisen und Furcht vor Spinnen in Wissen und Bewunderung. Auf einer Wiese gibt es viel zu entdecken, auf einem Grashalm eine Heuschrecke, dunkle Kugelkäfer unter einem feuchten Stein. Überall wunderbarer Klatschmohn. Die rote Farbschönheit erfreut immer wieder.
An Regentagen lese ich gern die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, manchmal unter der Bettdecke bis in die tiefe Nacht hinein.. Oder in Büchern, die von großer Fahrt auf den Weltmeeren erzählen, von Segelschiffen, Schiffsjungen und Matrosen. Von Meuterei und verwegenen Piraten, die Handelsschiffe kapern und Kugeln aus schweren Kanonen auf ihre Verfolger regnen lassen. Sie entkommen jedesmal und erreichen ohne Verluste ihre Schatzinsel, sitzen am Abend am Lagerfeuer, trinken Rum und singen Loblieder auf Tapferkeit und freies Leben. Piraten tragen auf jedem Buchumschlag eine Augenklappe. Für das Lesen unter der Bettdecke habe ich eine große Taschenlampe mit fünf Batterien.
Große Ferien. Das sind auch Radtouren gemeinsam mit Freunden zur Barbarossahöhle oder zum Kyffhäuserdenkmal. Örtliche Ferienspiele, Ferienlager an der Selkemühle im Harz, zelten am Süßen See, ein sonntäglicher Fahrradausflug mit Friedhelm zu seinen Verwandten in Wernigerode mit Schloßbesichtigung hoch oben über der Stadt. Wir sind neugierig auf alles, was wir noch nicht kennen. Wir sind Kinder, manchmal staunen wir, mit offenem Mund. Manchmal sind wir ganz klein. Manchmal aber auch groß, vorlaut und übermütig.
Die Schule beginnt wieder, Am ersten Tag gibt es viel zu erzählen, über wunderbare Sommertage. Sie sind vergangen. Wehmut stellt sich ein. Zum Trost gibt es bald Herbstferien. In einem Kalender lese ich, Erinnerungen sind ein Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.