ABC-Aufbruch mit Schiefertafel und Griffel
zum Lernen und besseren Verstehen der Welt
Zur Erinnerung an eine Schuleinführung vor sechzig Jahren an der Sondershäuser Käthe-Kollwitz-Mittelschule von einst
Von HUBERT APPENRODT
„In diesem Jahr kommst du in die Schule!“ Daran erinnerte mich meine Mutter hin und wieder: „Darauf kannst du dich freuen. Im September – freust du dich darauf?“ Mit dem neuen Jahr war auch mein Einschulungsjahr gekommen: 1955, ich war sechs Jahre alt, am ersten Schultag sieben. Den letzten Sommer verbrachte ich auf dem Land bei meiner Großmutter in Bendeleben, und von Hans-Rainer, einem Nachbarjungen, der nach den großen Sommerferien bereits in die zweite Klasse kam, ließ ich mir erzählen, was in der Schule auf mich zukäme: „Wir haben alle Buchstaben und Zahlen gelernt. Jetzt können wir lesen, schreiben und rechnen.“ Ich freute mich auf die Schule. Dann könnte ich bald die Märchen, die unsere Mutter jeden Abend uns Kindern vorlas, selbst lesen. Die abendliche Märchenstunde vor dem Zubettgehen liebte ich sehr.
Schulbeginn war früher immer am ersten September. Vor sechzig Jahren fiel er auf einen Donnerstag. Als Kniestrümpfe und Hose, Hemd und Seitenscheitel richtig saßen, nahmen mich meine Mutter und mein Vater bei der Hand, und wir gingen festlich gekleidet gemeinsam meinen künftigen Schulweg - zusammen mit meinem zwei Jahre jüngeren Bruder Klaus und einigen Verwandten. Mein Vater hatte dafür einen Tag frei genommen.
Die Sonne schien warm vom Himmel herab, der Sommer war noch nicht vorüber, die Gärten zeigten sich noch immer blütenreich. „Das mußt du dir alles merken“, sagte meine Mutter, als wir, von der Hospitalstraße kommend, bei Bäcker Müller in die Karnstraße einbogen, danach ging es das Kasernengäßchen hinauf. Oben angekommen, waren es dann nur noch wenige Schritte bis zu meiner Schule, einem wunderbaren Prachtbau, den ich bereits einige Male zuvor bestaunt hatte.
Ehrfurchtsvoll betrat ich das Schulgebäude. Mir gefielen sofort die langen Flure und großen hellen Fenster, die breiten Treppenaufgänge führten hinauf zu den anderen Klassenzimmern. Ältere Schüler wiesen uns den Weg nach oben - zur Aula, deren Flügeltüren standen weit offen. Auf den Stühlen, angeordnet in langen Reihen, hatten bereits viele Mütter und Väter mit ihren Töchtern und Söhnen Platz genommen. Links neben der Bühne war ein Lindenbaum mit Zuckertüten aufgestellt, der bis zur Decke reichte. Zu ihm sahen wir Kinder immer wieder hin. Besonderen Eindruck hinterließ bei mir jedoch das Monumentalgemälde an der fensterlosen Raumseite, das große Erhabenheit ausstrahlte, von ehrwürdigen Lehrern und ihren Schülern aus vergangener Zeit erzählte.
Die Einschulungsfeier begann, als Mädchen und Jungen aus oberen Klassen sich auf der Bühne zu einem Chor aufstellten. Da war es ganz still im Saal. Mit dem Akkordeon begleitet von Frau Rosenstiel, fügten sich die Lieder, aber auch die Gedichte und kleinen Ansprachen zu einer feierlichen Abfolge mit hellfrohem Glanz - als erwachten in einem an einem sonnenschönen Frühlingstag Hoffnung und Zuversicht gleichzeitig. Einfühlsame Worte der Ermutigung, gerichtet an uns, die Jüngsten, aber auch an unsere Eltern, fand auch Herr Muhlack, der Direktor der Schule, in seiner kleinen Ansprache.
Danach wurden unsere Klassenlehrerinnen vorgestellt: Fräulein Weiß für die Klasse 1a und Fräulein Kirchner für die 1b. Beide riefen nacheinander unsere Namen auf, wir gingen nach vorn und erhielten unsere Zuckertüten, die wir, so neugierig wir auch waren, erst zu Hause öffneten - beglückt über den reichlichen Inhalt, über Schokolade, gefüllte Waffeln und andere Süßigkeiten. Über einen Aquarellkasten und Farbstifte freute ich mich besonders.
Am Nachmittag führte ich allen Gästen meinen Schulranzen vor, und wir besahen gemeinsam meine Schulbücher: die Fibel „Lernen und Lesen“, mit wunderbaren Illustrationen von Hans Baltzer, und das kleine Rechenbuch, aber auch die Schiefertafel mit angespitztem Griffel und einem Schwämmchen an der Seite und das flache Kästchen zum Aufbewahren der Stifte. Wir waren der letzte Schuljahrgang, der zum Schreiben und Rechnen eine Schiefertafel benutzte.
Am zweiten Tag begleitete meine Mutter mich noch einmal zur Schule. „Aber ich kann doch gar nichts“, sagte ich, mit einem Male mutlos und traurig. „Aber dafür ist doch die Schule da“, sagte meine Mutter, „um zu lernen, wie alle anderen Kinder auch.“ Ich holte tief Luft, und dann kam auch schon unsere Lehrerin, um uns in unseren Klassenraum zu führen.
Am dritten Tag ging ich bereits allein zur Schule - zum Lernen aller Buchstaben und Zahlen. Am Ende des Schuljahres konnte auch ich lesen und schreiben und rechnen: fortan zum besseren Begreifen der großen Welt, zum Verstehen all dessen, worauf ich neugierig war und noch immer bin. Das Vermögen dazu haben wir vor allem unseren Lehrern zu danken, an die ich oft mit großer Rührung denke. Viele von ihnen leben nicht mehr; ich bin ihnen für so vieles, was wir bei ihnen lernen konnten, noch immer sehr dankbar – wohl nicht nur ich allein.
Mein Bruder Klaus (1950-2006) erhielt auch eine Zuckertüte.
Und so sah unsere Fibel im Jahr 1955 aus:
Und mit diesem Buch lernten wir alle Zahlen und Rechenarten:
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