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Sonntag, 6. März 2016





Wie das neue Jahr nach Sondershausen kommt
  

Für Erwachsene und Kinder zum Jahreswechsel



VON HUBERT APPENRODT


Die Erwachsenen, die glauben alles zu wissen, weil sie erwachsen sind, haben es ihren Kindern bereits mehrmals erklärt, geduldig und in schönen Worten, und so wissen es die Kinder auch. Wenn die Glocken läuten und Raketen zum Himmel aufsteigen, ist das neue Jahr da, und der neue Kalender kann aufgehängt werden. Einige jedoch wollen es dennoch genauer wissen und fragen immer wieder: Wie aber kommt denn nun das neue Jahr wirklich nach Sondershausen? In jedem Jahr fragen das einige Kinder. Dabei ist es ganz einfach. Wer will, kann es selbst erfahren. Es ist nicht schwer. Wer sich am letzten Tag des Jahres einen guten Platz sichert und bis nach Mitternacht hellwach bleibt, bekommt alles haargenau mit.

Am letzten Dezembertag erwacht wie an allen Tagen zuvor das alte Jahr im Schloßturm, macht sich frisch und schnürt ohne große Umstände sein Bündel, steigt die Turmtreppe herab, überquert den Schloßhof mit Herkulesbrunnen und kommt dann bedächtig die Schloßtreppe herunter. Im Dienstzimmer des Bürgermeisters erhält es am späten Nachmittag ohne viel Aufhebens die Abdankungsurkunde. „Das war’s dann wohl“, sagt der Bürgermeister. „Vielen Dank, bis zum nächsten Jahr!“ Das alte Jahr nickt und sagt: „Es war sehr schön hier an all den Tagen in Sondershausen.“ Nach einem Gläschen aus einer guten Flasche ist dann die Zeit für den endgültigen Aufbruch gekommen. Nach besiegeltem Abschied und Händedruck bricht das alte Jahr mit ein wenig Wehmut im Herzen auf und verläßt die Stadt, überquert den Markt, erreicht die Lohstraße, weiter geht es in Richtung Hauptbahnhof, zum Franzberg hoch. Ist der Jechaburger Weg dann auch noch genommen, verschwindet es ganz langsam hinter dem Frauenberg. Jetzt ist die Zeit für das neue Jahr gekommen.

Das neue Jahr kommt frisch und munter im Königsmantel die Hainleite herunter, gut gelaunt und erhabenen Schrittes, weil es jung ist, schön anzusehen, heiter und frohen Mutes. Der klirrend schöne Januar indessen erreicht von der Windleite her über die Hardt die Stadt, in einem weißen Mantel, festen Schrittes und mit wehenden Haaren, gelegentlich im Schneegestöber. Auf dem Markt treffen beide auf Herrn Silvester, der hier seit geraumer Zeit auf sie wartet. Nachdem alle einander begrüßt haben, schreiten sie zur Alten Wache hinüber. Und jeder schreibt seine Zahl, die er sich vorher ausgedacht hat, mit weißer Kreide an die große Holztür. Die vierte Zahl schreibt ein Sondershäuser Kind, das hierfür auserwählt worden ist, als letzte Ziffer an die Tür. Noch nie gab es Beschwerden. Immer stand anderntags die richtige Jahreszahl an der Tür und konnte ohne Beanstandung ein ganzes Jahr lang auf allen Briefbögen und Urkunden verwendet werden.

Nach Verrichten der kleinen Arbeit an der Alten Wache, geht jeder dann wieder seiner eigenen Wege. Herr Silvester kehrt nach Rom zurück und verabschiedet die Glocken, die die Weihnachtstage im Petersdom verbrachten. Nach ihrer Ankunft in Sondershausen läuten sie das neue Jahr ein. Während das neue Jahr im Königsmantel die Schloßtreppe hinaufgeht, denkt sich der Januar im weißen Mantel etwas für den Neujahrsmorgen aus. Vielleicht  läßt er diesmal zur frühen Stunde Schnee für die Kinder zum Schlittenfahren herabfallen und den Parkteich zufrieren, oder er malt Eisblumen an die Stubenfenster. Nur das auserwählte Kind hat es ein wenig schwerer. Wenn es den Eltern am Neujahrsmorgen erzählt, was es in der Nacht erlebt hat, sagen sie: Ach, das hast du nur geträumt. Obwohl auch sie wissen, daß Kinder immer die Wahrheit sagen.

Am frühen Neujahrsmorgen, wenn noch alle schlafen, überquert dann der Bürgermeister den Markt und notiert an der Alten Wache in sein Bürgermeistermerkheft die neue Jahreszahl, für die er dann in seiner dafür vorbereiteten Amtsstube in sorgfältiger und angemessener Schönschrift eine Urkunde ausstellt. Die hängt er dann für jeden Bürger sichtbar am Rathaus aus. Das Jahr mit Wohnrecht im Schloßturm ist dann für die Stadt Sondershausen amtlich gültig. Der Bürgermeister tritt einen Schritt zurück, betrachtet noch einmal die Urkunde, ob alles stimmt, kein Zahlendreher, und geht dann, die ersten Strahlen der frühen Morgensonne erreichen die Stadt, zufrieden nach Hause, um sich am Nachmittag bei einer Tasse Kaffee, handgemahlen, im Kreise seiner Familie neues für die Stadt auszudenken. Das ist in jedem Jahr so. Noch nie war es anders.


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