Sondershausen im märchenschönen Winter |
Ein Silvesterabend in der
Stadt und
ein Neujahrstag auf dem Lande
Zum neuen Jahr – Großvaters Geschichten zum Neujahrstag und kein Durchkommen zum Backhaus
Was gehörte früher einmal zu einem gelungenen Silvesterabend? Radio und Fernseher hatten Empfangspause. Zur ausgelassenen Unterhaltung bis nach Mitternacht trugen die Silvestergäste selbst bei, unterstützt von Bowle, Bier und Sekt - bei gelegentlichem Konfettiregen und Werfen von Luftschlangen, woran die Kinder ihren Spaß hatten. Für den Sternenzauber am nächtlichen Raketenhimmel sorgte die Nachbarschaft, unsere Hündin Charly zitterte voller Angst vor dem Raketenlärm und fand unterm ausgezogenen Wohnzimmertisch Beistand und Trost von jedermann, bis zur erlösenden Stille am frühen Neujahrsmorgen.
Fehlen durfte auf keinem Fall zur großen Abendbrottafel eine große Schüssel mit Heringssalat, aufwendig mit allen denkbaren Verfeinerungen am Vormittag hergerichtet, ebensowenig eine Schüssel mit Kartoffelsalat und Wiener Würstchen und die klassische Bowle. Für alle drei Köstlichkeiten hatten sich tagsüber viele Hände geregt. Die beiden Brüder meiner Mutter, ihre Ehefrauen und Kinder verbrachten stets gern einige Jahre den Silvesterabend gemeinsam mit uns zusammen. So war das einige Zeit bei uns zu Hause in der Stadt.
Bei der väterlichen Verwandtschaft auf dem Lande im nahen Berka gehörte dazu, oft von meinem Cousin Wolfgang erzählt, die Ankündigung unseres gemeinsamen Großvaters Otto, zwischen zwei Zügen aus der Tabakspfeife, daß in der Silvesternacht die Haustiere sprechen können und bei dieser Gelegenheit einander erzählen, was ihnen vor allem an Ungemach im letzten Jahr widerfahren sei, als wir noch vertrauensselige Kinder waren und der aufsteigende Rauch aus der Tabakspfeife das Gesagte immer wieder bedeutungsvoll unterstrich - am Neujahrsmorgen in der kleinen guten Stube, umringt von neugierigen Kindern auch aus der Nachbarschaft. Ihnen allen gab er genüßlich zum Besten, was er diesmal in der vergangenen Nacht zu hören bekommen hatte. Es war ganz still im Raum.
Einige Münder standen weit offen, auch die der Zweifler. Jemand habe es versäumt, zum Abend hin das Schwein zu füttern, ein anderer vergessen, den Ziegenstall auszumisten, Milch für das Kätzchen sei verschüttet worden, die Kaninchen fanden wegen mangels an Futter eine Nacht nicht in den Schlaf, der treue Wachhund sei unsanft behandelt worden, und die Gänseschar, die zur Dämmerung allein nach Hause habe finden müssen, habe lange und ungeduldig vor verschlossenem Hoftor warten müssen. Dazu wurden alle Schuldigen beim Namen genannt. Niemand kam mit einer weißen Weste davon, es hatte sich übers Jahr einiges angesammelt. „Aber wir haben ja jetzt ein neues Jahr, da kann man manches wieder gut machen“, schloß tröstend der Großvater seine Ezählung und stopfte schmunzelnd eine neue Pfeife zur Feier des Tages und neuen Jahres.
Tante Irmgard, seine Tochter und Mutter meines Cousins, hatte das großväterliche Erzähltalent geerbt. Wenn ich zu Besuch war, und es gab in der herbstlichen Dämmerstunde Abendbrot, erzählte sie gern anschaulich neue Geschichten vom Gelben Männchen, das in einem kleinen Umspannhäuschen an der Chaussee nach Sondershausen sein zu Hause habe und allerlei Schabernack mit heimkehrenden Dorfbewohnern triebe. Tante Irmgard kannte die Namen all jener, denen es einen Streich gespielt hatte. Demnach setze sich das Gelbe Männchen bevorzugt auf den Gepäckträger von Fahrrädern oder auf den Hintersitz von knatternden Motorrädern, zum Leidwesen ihrer Besitzer, denen ein Vorwärtskommen plötzlich nur mit großen Mühen möglich war. Der Angstschweiß stünde ihnen bis nach Hause auf der Stirn. Vor dem Hoftor angekommen, sei das Gelbe Männchen ebenso schnell verschwunden wie es vordem aufgesprungen war. Unsere Tante versicherte, das sei erst in diesen Tagen diesem und jenem Dorfbewohner widerfahren, zwei, drei Häuser weiter könne man jederzeit nachfragen. Uns lief ein kleiner Schauer über den Rücken.
Einmal im Herbst heulte der Wind ein wenig ums Haus, und die Fensterläden klapperten: „Huch“, ließ sich beim abendlichen Broteschmieren unsere Tante urplötzlich vernehmen, „schaute nicht eben das Gelbe Männchen zum Fenster herein?“ Sie faßte sich mit Entsetzen an die Brust: „Eben war mir so.“ Uns gruselte es nun tatsächlich. Ein andernmal war sie nach kurzer Zeit so in ihr Erzählen vertieft, daß sie nicht bemerkte, wie sie ein Schnittbrettchen mit guter Butter zu beschmieren begann. Vorsichtig machten wir sie nach einer Weile darauf aufmerksam.
Unvergessen ist uns Kindern von damals ihr Bemühen, nachdem sie eines Tages zur Erntezeit auf einem großen runden Blech einen wunderbaren Apfelkuchen hergerichtet hatte, mit diesem auf dem Kopf zum Backhaus zu gelangen. Die Hoftür ließ sich noch öffnen, aber die ganze Straße war bis um die Kurve herum mit vollgepackten Erntewagen verstellt, die nach und nach zum Druschplatz an der Mühle vorgeschoben wurden. Es gab für unsere Tante kein Durchkommen, da überkam es sie. So laut, daß es jeder bei geschlossenem Fenster vernehmen konnte, ließ sie ihren Unmaut freien Lauf, im vertrauten Berkaer Wortklang: „Jetzt han se wedder die ganzen Wagens vor de Deer gestiepelt“, kleine Pause und zorniger, „daß me mit’n Koochen nicht deerchkämmt!“
Wir Kinder blieben auf Abstand. Wir vermieden es auch, nachzusehen, wie unsere Tante die Wagenburg doch noch bezwang. Wir wissen es bis heute nicht. Am nächsten überaus friedlichen Morgen gab es zu Malzkaffee mit Milch den berühmten, wohlschmeckenden Apfelkuchen unserer guten Tante.
Tante Irmgard starb viel zu früh, sie war grundgütig, Kindern herzlich zugetan, besaß Humor und konnte wunderbare Geschichten erzählen - mir ist sie bis heute unvergessen. In jedem Jahr erinnere ich mich neu an sie.
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