Erster Schnee
Zum ersten Adventssonntag
Von HUBERT APPENRODT
Einmal gab es das alles wirklich, was als Erinnerung tief in unseren
Herzen kindliche Aufbewahrung fand. Und wie in jedem Jahr, wiederholt sich auch
in diesem, was wir immer empfinden, wenn die Zeit herangekommen ist. Eben war
noch Herbst und letzte Gartenarbeit war zu verrichten, da kündet sich
unversehens der letzte Monat im Jahr mit seinen stillen Tagen an, der
Vorweihnachtszeit und dem schönsten Fest selbst. Gelegentlich auf besondere
Weise, wenn es gerecht zugeht, mit dem ersten Schnee, den sich die Kinder in
jedem Jahr so sehr wünschen. Vielleicht weiß jemand, ob damals in
Sondershausen, als städtische Bekanntmachungen auf Straßen und Plätzen noch mit
Handglocke und kräftiger Stimme ausgerufen wurden, es am Ende manchmal
beiläufig hieß, noch heute am Abend wird es in diesem Jahr den ersten Schnee
geben. Um an Pflichten zu erinnern, Gehwege und Straßen sorgsam zu räumen und
Salz zu streuen.
Niemand mehr verkündet in Sondershausen den ersten Schnee. Die Menschen
haben über die Jahre ein feines Empfinden entwickelt dafür, was ihnen demnächst
wohl das Wetter bringen wird. Jeder spürt das Herannahen des Regens oder den
Herbststurm und eben auch das sanfte Herabfallen des ersten Schnees. Man kann
ihn mit der Nase wahrnehmen und am frühen Morgen bereits riechen, den ersten
Schnee, den es am Abend oder in der Nacht dann tatsächlich geben wird. Wer am
Tag hin und wieder zum Himmel aufschaut, kann dort, wo sich in der Ferne Erfurt
erahnen läßt, die langsam herannahenden Schneewolken sehen, oder sie ziehen von
Frankenhausen herauf. Und nach langer Nacht sind am anderen Morgen Schul- und
Arbeitswege verschneit, die Straßen und Gassen, alle Winkel, Vorgärten und
Plätze, die Dächer der Stadthäuser mit Watte aus Schneekristallen bedeckt,
gleichsam Markt, Ratshäuser, Schloß und Park, der Friedhof und das Brückental,
das Jechator und der Franzberg, wie von Zauberhand mit einer weißen sanften
Schneedecke überzogen, daß es dann doch wieder jeden das Herz mit kindlicher
Freude beglückt.
Und die Kinder selbst, die ganz Kleinen, die zum ersten Mal in ihrem
Leben gewahr werden, welch seltsame Schönheit sich vor ihnen unverhofft
ausbreitet, werden es wiederum ein Leben lang nicht vergessen, daß man daraus
auf den verschneiten Wäscheplatz einen Schneemann rollen und formen kann, mit
kleinen Kohlestückchen für die Augen und den Mund und einer Möhre für die Nase,
obenauf der Hut. Früher schrieb jemand das Jahr auf eine Schiefertafel, setzte
sie vor den Schneemann und fertigte ein Erinnerungsphoto. Die Kinder darauf
kramen es später einmal hervor, wenn sie selbst alt geworden sind.
Die Kamera ist verpackt, und nun geht es mit dem Schlitten zum
Rondell hinauf und wieder hinunter in die Stadt, bis zum Beginn der
Possenallee. Und gleich noch einmal von vorn, noch einmal atemlos hinauf und
mit Freude wieder von oben talwärts, hinab bis zum Ende des langen Possenwegs,
in schneller Fahrt. Bis alle müde sind und in der Abenddämmerung mit
leuchtenden Augen und roten Wangen nach Hause gehen.
Mit dem ersten Schnee, ob er im November bereits kam oder erst im
Dezember, ob es nun im hundertjährigen Kalender für Sondershausen so vermerkt
war oder nicht, beginnt die Vorweihnachtszeit, die stille Zeit mit den
Erinnerungen, wie es früher einmal war. Alles Denken und Handeln läßt sich in
dieser Zeit von nachdenklicher Sanftmut leiten, aller Streit ist vergessen, und
die Erwachsenen werden wieder zu Kindern. Darüber sind wir einen ganzen Monat
lang froh, wem es gegeben ist, sogar ein ganzes Jahr, auch in Sondershausen.
HUBBERT APPENRODT
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