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Donnerstag, 10. März 2016




Wie der Frühling nach Sondershausen kommt

Mit einer ehrenvollen Erinnerung an einige Sondershäuser Bürger von damals und heute und zum Andenken an den verdienst- wie auch humorvollen Redakteur von einst Karl-Heinz Meyer

Von HUBERT APPENRODT



Ob nun jemand gerade traurig auf dem Sofa sitzt oder die Fenster und sein Herz weit geöffnet hat, ob nun einer verzagt oder helle Freude am Leben empfindet, ob nun einer gesund ist oder mit Fieber krank im Bett liegt, ob nun einer lebt oder glaubt, bereits gestorben zu sein - das Frühjahr kommt ja doch. Auch nach Sondershausen. Aber nicht, wenn der Frühling nicht angemessen empfangen wird.



Vor vielen Jahren tagte wieder einmal das Sondershäuser Frühlingsempfangskomitee im Gasthaus zur Sonne, faßte nach langwierigem Hin und Her zur späten Stunde einen Beschluß, versäumte aber anderntags, dem Auserwählten fristgerecht den wichtigen Empfangsauftrag auch mitzuteilen. Weil sie in fröhlicher Runde und aus menschlicher Schwäche zuviel Tee mit Rum aus Kuba getrunken hatten. Es war ja noch Winter und kalt. So kam zwar Wochen später munter und frohen Schrittes der Frühling zur vorgesehenen Stunde auf der Chaussee von Frankenhausen her auf die Kreisstadt zu, aber niemand war zum Empfang erschienen. Als der junge Frühling das sah, beschloß er kurzerhand, Sondershausen zu umgehen. Und so kam es, daß wenige Wochen später zum ersten Mai noch einmal Schnee auf die Ehrentribüne der Arbeiterklasse herabfiel und auf ihre hohen Gäste und die Blasinstrumente der Bergmannskapelle. Das sonst kraftvoll geschmetterte „Glückauf“ fiel diesmal musikalisch kühl aus. Und auch das allgemeine Anbaden Mitte Mai mußte in jenem Jahr notgedrungen auf August verlegt werden. In der Zeitung war zu lesen, daß jene mit Veilchen am Revers mit zuviel Rum im Tee getagt hätten und Schuld am Durcheinander der Jahreszeiten trügen. Darüber beklagen sich die ehemaligen Komiteemitglieder noch heute bei Veteranentreffs im Altstadtcafe, erkennbar an den blauen Ehrenveilchen.



Redakteur Meyer hatte den kleinen Text verfaßt und entschied zusammen mit dem Hauptredakteur, den Frühling im kommenden Jahr selbst entgegenzugehen, würdevoll, mit frisch angespitztem Bleistift und einem Notizblock für das Interview mit vorbereiteten Fragen und einem politisch neutralen Frühlingsbändchen am Revers. Darauf bereitete sich Redakteur Meyer, der stets auf Ordnung an und auf seinem Schreibtisch achtete, sehr sorgsam vor. Er überprüfte noch einmal die mechanische Schreibmaschine auf Funktionstüchtigkeit: klick, klack – klicker, klacker, klick, klick, klick Alle Tasten in Ordnung, alle Anschläge ließen sich korrekt ausführen. Zum Abschluß richtete Redakteur Meyer alle Bleistifte, Kugelschreiber und Blätter auf der Tischplatte zueinander in rechtem Winkel aus und klopfte zum Redaktionsschluß dreimal auf Holz. Am Abend begab er sich noch vor der „Aktuellen Kamera“ zur Nachtruhe, um anderntags ausgeruht dem Frühling entgegengehen zu können. In der Nacht träumte er von Blumen rot und blau, vom Maientanz unter grünen Linden, vom Ende des Winters und frühbürgerlicher Revolution. Und hätte bei dem schönen Traum beinahe verschlafen, wenn ihn nicht seine Frau geweckt hätte.



Mit einem Sprung aus dem weichen Federbett waren im Nu auch rasch alle Morgenangelegenheiten verrichtet. Die Haare gekämmt, die Krawatte gerichtet, da ging Redakteur Meyer schon leichten Schrittes auf der Chaussee dem Frühling entgegen, der, heiteren Gemüts von Frankenhausen kommend, sich noch vor seinem Erscheinen mit einem Sonnenstrahl ankündigte. Sogleich lag über der kleinen Landschaft ein Zauber, wie er frohen Herzens vom Himmel nur an einem Frühlingstag verschenkt werden kann. Redakteur Meyer blieb stehen, sah sich um und erfreute sich still und beglückt an der erhabenen Schönheit dieser frohen Morgenstunde, in Erwartung des Frühlings. Dem ersten warmen Sonnenstrahl folgten weitere, und über den sanften Hügeln vor Berka ging allmählich die Sonne auf, bis schließlich auch er, der Lenz, zu sehen war - ein junger Bursche, frühlingshaft mit wehendem Blondhaar, mit hellem, fröhlichem Gesicht, leuchtenden blauen Augen und einem Wanderstab mit Frühlingsbändchen.



Redakteur Meyer hieß den Frühling sogleich im Namen der Stadt, der Lokalseite und ihrer Leser herzlich willkommen. „Danke!“ sagte der Frühling und freute sich über die freundlichen Worte. – „Darf ich einige Fragen stellen?“ Beide gingen nun nebeneinander auf die Stadt zu. „Welches Grün hat der Frühling in diesem Jahr für die Windleite ausgesucht?“ – „Es bleibt beim dunklen Grün nach den Vorgaben des Huflattichs aus dem Farbenbuch des Frauenbergs.“ Redakteur Meyer notierte Huflattich, ein helleres Grün ist für die Hainleite und ein wunderbares Gelb für die Kornfelder. – „Für die Kornfelder?“ – „Die Farbe für das Getreide bringe ich immer mit, nicht der Sommer. Der ist nur für die Reife zuständig, für die Wassertemperaturen im Bergbad, für Regen, Gewitter und Sonnenschein.“ Der Frühling hielt inne und  sah Redakteur Meyer streng an: „ Das steht auch  immer wieder falsch in der Zeitung.“



Redakteur Meyer errötete: „Der Volontär. Einmal ich. Wir geloben Besserung.“ – „Dafür wird niemand mehr heutzutage in Ketten gelegt“, sagte der Frühling in versöhnlichem Ton, „obwohl es vielleicht manchmal helfen könnte.“ Da waren beide auch schon bei den ersten Vorgärten angekommen. „Welche Gesänge werden unsere gefiederten Freunde in den Gärten, Parks und auf weiter Flur“, Redakteur Meyer holte tief Luft, „und in den Wäldern“, er holte noch einmal Luft, „in diesem Jahr vielleicht sogar in Konkurrenz zum Lohorchester darbieten?“ – „Es bleibt vorerst bei den alten Gesängen, mit Aussicht auf neue Strophen vielleicht in fünfzehn Jahren.“ – „Das wäre dann ein neuer Gesang um 1989 herum“, notierte Redakteur Meyer nachdenklich und etwas verunsichert in sein Redakteurmerkheft: „Abschließend, werden die Schwäne auf unseren Teichen bleiben, die Stadt behüten und weiterhin für Nachwuchs sorgen?“ – „In Sondershausen bringen nicht nur die Störche die Kinder zu ihren Müttern, sondern in Zusammenarbeit mit den Schwänen. Sie werden also bleiben müssen.“ Redakteur Meyer notierte: „Die Schwäne werden die Stadt weiterhin beschützen und mehren.“ Erleichtert klappte er sein Notizbuch zu: „Ich danke für das Gespräch.“



Am Ortseingangsschild hatte sich indessen der Bürgermeister der Stadt aufgestellt, mit einem Blumenstrauß und einem Begrüßungstext, auswendig gelernt, darin einige Bitten um Entschuldigung wegen des vorigen Jahres, und Wünschen für die landwirtschaftliche Planerfüllung in diesem Jahr. Redakteur Meyer, der sich vom Frühling bereits verabschiedet hatte, sagte dem Bürgermeister im Vorübergehen Guten Morgen und eilte mit wehenden Rockschößen in die Redaktion.



Hier angekommen, nahm er kerzengerade an seinem Schreibtisch Platz, spannte ein neues weißes Blatt in seine alte Rheinmetall aus Sömmerda, schaute zum Fenster vor ihm auf, durch die blitzblanken Scheiben hindurch, hinauf zum blauen Himmel über Sondershausen und dachte beim tiefen Einatmen über den ersten Satz nach.



Zur gleichen Zeit sangen im Unterrichtsraum neben der Aula der Käthe-Kollwitz-Schule die Jungen und Mädchen einer dritten Klasse „Nun will der Lenz uns grüßen“. Frau Rosenstiel begleitete sie dazu auf dem Akkordeon. Die Schüler hatten sich zum Singen erhoben und konnten beim Gesang zum Fenster hin über die Dächer von Sondershausen sehen, im Hintergrund erkennbar die flachen Hügel der Windleite. Am Haus der Kunst stellte zu dieser Zeit Herr Gertler aus dem Schersental sein Fahrrad ab und eilte mit seiner Violine zur Orchesterprobe für Vivaldis Jahreszeiten, dessen Frühlingssatz am Abend in einem Lohkonzert besonders schön erklingen sollte. In der Hospitalstraße schaltet Schuldirektor Löhrius das Radio an: „Heute wollen wir einmal nicht traurig sein“, drehte sich um und sagte leise zu seiner Frau: „Darf ich bitten?“ Und beide schwebten zum Donauwalzer aus dem Radio in ihrem Wohnzimmer um den großen Stubentisch herum. Wie in alten unbeschwerten Tagen, von denen sie aber glaubten, sie seien für immer vergangen, weil sie vor Jahren ihren kleinen Sohn verloren hatten. Als der Walzer verklungen war, sagte Frau Löhrius: „Unser lieber Junge hat uns  eben zugesehen.“ –„Und sich gefreut. Er weiß ja, daß wir einmal bei ihm sein werden.“ Im Kräuter- und Gemüsegarten indessen, den es damals noch am Krankenhaus gab, unterbrach zur gleichen Zeit Herr Aschoff das Herrichten eines Frühjahrsbeets und griff mit der Hand ins lockere Erdreich. Als ich bei ihm stand, hielt er mir seine flache Hand mit der Erde entgegen: „Sieh mal, das ist alles Leben. Darin ist soviel Leben.“ – „Ja“, sagte ich, „das hatten wir im Biologieunterricht. Bei Herrn Henze.“ – „Heute ist Frühlingsanfang“, sagte Herr Aschoff, „da erwacht alles Leben neu. Und dafür richte ich das Beet her.“



Im Redaktionszimmer hatte währenddessen Redakteur Meyer seinen ersten Satz für die Zeitung in die Schreibmaschine getippt: „Seit gestern haben wir auch in Sondershausen Frühlingsanfang.“ Einmal in Schwung, war der kleine Zeitungsbeitrag für den nächsten Tag bald fertig: „Mit den ersten Sonnenstrahlen über den Hügeln vor Sondershausen traf der Lenz zur vorgegebenen Zeit ein und hauchte sanft der Windleite das erste Grün ein, danach ließ er die Hügel der Hainleite ergrünen. Der Himmel war blau und strahlte. In den Gärten wird es bald rot und blau blühen. Der Frühling wurde am Stadtrand von unserem Bürgermeister empfangen. Im Rathaus schrieb er sich in das dicke Buch der Sondershäuser Jahreszeiten mit schwungvoller Hand als Lenz Frühling ein, mit dem Versprechen, im nächsten Jahr eine Nachtigall für den Schloßpark und Lerchen für den Himmel über dem Possen mitzubringen. Im Park wurde eine Amsel mit einem Halm im Schnabel gesichtet, im Hof der alten Schäferei beim Gasthaus ‚Zum schwarzen Bären’ hielten Schwalben Ausschau für den Nestbau. Die Schwäne auf dem Parkteich bezeugten einander ihre Zuneigung. An einigen Bäumen im Park und in der Stadt zeigten sich die ersten Knospen. Gestern war für uns alle ein schöner Tag.“  So war es am nächsten Tag fehlerfrei in der Zeitung nachzulesen.



In jedem Jahr kommt so der Frühling nach Sondershausen. Und alles Leben erwacht neu. Nichts bleibt beim alten.


1 Kommentar:

  1. Das sind herrlich erbauliche Märchen. Eine humorvolle Wohltat, da wir in diesem Land täglich weniger zu lachen haben ;).

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