Erwartungsfrohe Ente an der Wipperbrücke - gern und heimlich gefüttert von Kindern und ihren nachsichtigen Eltern.
Foto: Hubert Appenrodt
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Junge Rebellen und hungrige Enten
Eine Sondershäuser Alltagsgeschichte über milchgesichtige junge Rebellen an der Wipperbrücke
VON HUBERT APPENRODT
Der Winter ist still und nahezu unauffällig
vergangen, und mit ihm verging gleichsam unbemerkt jener Februartag, an dem der
Rat der Stadt vor sechs Jahren noch einmal in der „Sonderhäuser Allgemeinen“
seine Bürger ermahnte, trotz vielen Schnees, schweren Eisgangs und frostiger
Tage keinesfalls an den Gewässern wildlebende Enten und Schwäne zu füttern –
bei Androhung eines Ordnungsgeldes. Seither gibt es mit der städtischen
Notverordnung zum durchaus sinnvollen Erhalt der Uferbefestigungen gegen
Wühlarbeiten kleiner Nager jedoch auch die Auflehnung, eine Rebellion ehemals
gesetzestreuer Bürger – zum Leidwesen des Bürgermeisters und seiner Stadträte.
Die milchgesichtigen Rebellen sind nahezu allesamt
bekennende Ringelmützenträger und im Durchschnitt drei Jahre alt. Sie zwingen
ihre Eltern oder Großeltern, mit ihnen, wenn das mitfühlende Herz übervoll ist,
an die Wipper zu gehen, um heimlich die dortigen Enten zu füttern, denen ihre
herzensgute Zuneigung und Liebe gilt – wie gelegentlich am Nachmittag im
Fernsehen den Zoogeschichten, in denen ihre großen Vorbilder, fürsorgliche
Tierwärter, Elefanten und Mücken füttern, ebenso wie Eisbären, Schlangen und
Mäuse. Die hilflosen Eltern sind daran zu erkennen, daß sie zutiefst
verunsichert mit ihren Kindern das Haus verlassen, ängstlich umherschauen und
sich vor den städtischen Kontrollgängen der Behörden fürchten, wenn sie an der
videoüberwachungsfreien Wipperbrücke angelangt sind.
Nachfolgend aufgeführte Geschehen sind inzwischen verjährt
und können strafrechtlich nicht mehr verfolgt werden. An einem Frühlingstag im
vergangenen Jahr sah ich, auf dem Weg zum Kaufland, wie ein junger Vater gemeinsam
mit seinem Söhnchen an der Wipperbrücke die seitliche Treppe herabstieg, um
unter dem Brückenbogen gegen die Stadtobrigkeit zu handeln. Für kaum jemanden
sichtbar, begann der Sohn sogleich, die kleine Entenschar mit gesammelten
Brotresten zu versorgen – zum beidseitigen Vergnügen. Die Enten flatterten
umher, als sei soeben für sie das Paradies auf Erden ausgerufen worden.
Der Vater verzichtete auf seine Aufsichtpflicht, setzte sich
auf einen Betonvorsprung und nutzte die Zeit für das genüßliche Rauchen einer
Zigarette; vermutlich auch als öffentlichen Protest gegen die allgemeine
deutsche Gebots- und Verbotsmanie: Jeder Zigarettenzug ein Atemzug für mehr
Freiheit und Selbstbestimmung. Während der ungefähr Vierjährige beim Verteilen
des Mitgebrachten auf Gleichbehandlung achtete und deshalb nach einer Weile
wütend eine Ente ermahnte, nicht alles für sich zu beanspruchen: „Geh weg, die
anderen wollen auch etwas! Geh doch endlich weg!“ Wozu die störrische Ente
allerdings nicht bereit war. Soziale Gerechtigkeit stellte sich jedoch nach
geraumer Zeit von selbst ein. Die eigensüchtige Hauptente zog sich gesättigt
von selbst zurück. Es gab an diesem Tag Wohlstand für alle.
An einem anderen Tag, mitten im Winter, war ich an der
Wipperbrücke zugegen, als ein kleines Mädchen sich an seine Mutter wandte,
nachdem es mit Entsetzen bemerkt hatte, eine Ente habe nur ein Bein. Zutiefst
verstört, bat das Kind seine Mutter, sich helfend um die Ente zu kümmern. Keine
Erklärung half, das Mädchen gab nicht eher Ruhe, bis die Mutter einige Schritte
nach vorn ging, in die Hände klatschte, so daß die Ente unvermittelt aus ihrem
Wintertagtraum gerissen wurde. Verdutzt und erschrocken, zeigte sie auch das
andere Bein und verließ den lauten Ort. Kehrte jedoch sofort wieder zurück, als
das nunmehr glückliche Mädchen erleichtert mit der Fütterung begann. Mutter und
Vater sicherten mit dem Rücken zum Geschehen den städtischen Tatort.
Beide Berichte zeigen, wie schwer es der Bürgermeister und
seine Räte trotz vielerlei Bemühen haben, die Stadt zu regieren – feinfühlig und
umsichtig, zum Wohle und zur Zufriedenheit aller.
Das bezeugt auch ein Abschlußgespräch mit drei Rebellen, die
sich entschlossen nach wie vor gegen die Verordnung stellen. Alle Vornamen sind
dem Autor bekannt, unterliegen jedoch dem Informantenschutz, den der
Rechtsstaat garantiert. Rebellin A, vier Jahre: „Wir werden dem Bürgermeister
ein Angebot unterbreiten, das er nicht ablehnen kann.“ Rebellin B, gleichfalls
vier Jahre aus der Astrid-Lindgren-Kindergartengruppe „Ronja Räubertochter“:
„Oder den Rat stürzen!“ Rebell C, mein Nachbar, im August vier, auf deutsch und
russisch: „Wir schaffen das!“
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