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Samstag, 14. Mai 2016

Erwartungsfrohe Ente an der Wipperbrücke - gern und heimlich gefüttert von Kindern und ihren nachsichtigen Eltern.
Foto: Hubert Appenrodt

Junge Rebellen und hungrige Enten

 

Eine Sondershäuser Alltagsgeschichte über milchgesichtige junge Rebellen an der Wipperbrücke



VON HUBERT APPENRODT



Der Winter ist still und nahezu unauffällig vergangen, und mit ihm verging gleichsam unbemerkt jener Februartag, an dem der Rat der Stadt vor sechs Jahren noch einmal in der „Sonderhäuser Allgemeinen“ seine Bürger ermahnte, trotz vielen Schnees, schweren Eisgangs und frostiger Tage keinesfalls an den Gewässern wildlebende Enten und Schwäne zu füttern – bei Androhung eines Ordnungsgeldes. Seither gibt es mit der städtischen Notverordnung zum durchaus sinnvollen Erhalt der Uferbefestigungen gegen Wühlarbeiten kleiner Nager jedoch auch die Auflehnung, eine Rebellion ehemals gesetzestreuer Bürger – zum Leidwesen des Bürgermeisters und seiner Stadträte.



Die milchgesichtigen Rebellen sind nahezu allesamt bekennende Ringelmützenträger und im Durchschnitt drei Jahre alt. Sie zwingen ihre Eltern oder Großeltern, mit ihnen, wenn das mitfühlende Herz übervoll ist, an die Wipper zu gehen, um heimlich die dortigen Enten zu füttern, denen ihre herzensgute Zuneigung und Liebe gilt – wie gelegentlich am Nachmittag im Fernsehen den Zoogeschichten, in denen ihre großen Vorbilder, fürsorgliche Tierwärter, Elefanten und Mücken füttern, ebenso wie Eisbären, Schlangen und Mäuse. Die hilflosen Eltern sind daran zu erkennen, daß sie zutiefst verunsichert mit ihren Kindern das Haus verlassen, ängstlich umherschauen und sich vor den städtischen Kontrollgängen der Behörden fürchten, wenn sie an der videoüberwachungsfreien Wipperbrücke angelangt sind.



Nachfolgend aufgeführte Geschehen sind inzwischen verjährt und können strafrechtlich nicht mehr verfolgt werden. An einem Frühlingstag im vergangenen Jahr sah ich, auf dem Weg zum Kaufland, wie ein junger Vater gemeinsam mit seinem Söhnchen an der Wipperbrücke die seitliche Treppe herabstieg, um unter dem Brückenbogen gegen die Stadtobrigkeit zu handeln. Für kaum jemanden sichtbar, begann der Sohn sogleich, die kleine Entenschar mit gesammelten Brotresten zu versorgen – zum beidseitigen Vergnügen. Die Enten flatterten umher, als sei soeben für sie das Paradies auf Erden ausgerufen worden.



Der Vater verzichtete auf seine Aufsichtpflicht, setzte sich auf einen Betonvorsprung und nutzte die Zeit für das genüßliche Rauchen einer Zigarette; vermutlich auch als öffentlichen Protest gegen die allgemeine deutsche Gebots- und Verbotsmanie: Jeder Zigarettenzug ein Atemzug für mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Während der ungefähr Vierjährige beim Verteilen des Mitgebrachten auf Gleichbehandlung achtete und deshalb nach einer Weile wütend eine Ente ermahnte, nicht alles für sich zu beanspruchen: „Geh weg, die anderen wollen auch etwas! Geh doch endlich weg!“ Wozu die störrische Ente allerdings nicht bereit war. Soziale Gerechtigkeit stellte sich jedoch nach geraumer Zeit von selbst ein. Die eigensüchtige Hauptente zog sich gesättigt von selbst zurück. Es gab an diesem Tag Wohlstand für alle.



An einem anderen Tag, mitten im Winter, war ich an der Wipperbrücke zugegen, als ein kleines Mädchen sich an seine Mutter wandte, nachdem es mit Entsetzen bemerkt hatte, eine Ente habe nur ein Bein. Zutiefst verstört, bat das Kind seine Mutter, sich helfend um die Ente zu kümmern. Keine Erklärung half, das Mädchen gab nicht eher Ruhe, bis die Mutter einige Schritte nach vorn ging, in die Hände klatschte, so daß die Ente unvermittelt aus ihrem Wintertagtraum gerissen wurde. Verdutzt und erschrocken, zeigte sie auch das andere Bein und verließ den lauten Ort. Kehrte jedoch sofort wieder zurück, als das nunmehr glückliche Mädchen erleichtert mit der Fütterung begann. Mutter und Vater sicherten mit dem Rücken zum Geschehen den städtischen Tatort.



Beide Berichte zeigen, wie schwer es der Bürgermeister und seine Räte trotz vielerlei Bemühen haben, die Stadt zu regieren – feinfühlig und umsichtig, zum Wohle und zur Zufriedenheit aller.



Das bezeugt auch ein Abschlußgespräch mit drei Rebellen, die sich entschlossen nach wie vor gegen die Verordnung stellen. Alle Vornamen sind dem Autor bekannt, unterliegen jedoch dem Informantenschutz, den der Rechtsstaat garantiert. Rebellin A, vier Jahre: „Wir werden dem Bürgermeister ein Angebot unterbreiten, das er nicht ablehnen kann.“ Rebellin B, gleichfalls vier Jahre aus der Astrid-Lindgren-Kindergartengruppe „Ronja Räubertochter“: „Oder den Rat stürzen!“ Rebell C, mein Nachbar, im August vier, auf deutsch und russisch: „Wir schaffen das!“

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