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Samstag, 14. Mai 2016



Ärzte, Schwestern und Angestellte des Kreiskrankenhauses Sondershausen auf einer Demonstration zum 1. Mai in der oberen Leninallee - mit Hubert Johann Otto Appenrodt, seinem Bruder Klaus, ihrem Vater, mit Regina Jurk und ihrem Vater, ebenfalls Krankenpfleger


In blütenweißem Pionierhemd an der Maitribüne vorbei


Aus vergangener Zeit: An einem 1. Mai in unserer Kleinstadt – eine Erinnerung



VON HUBERT APPENRODT

In den Morgenstunden war zum ersten Mai immer die Werkskapelle des Kaliwerks „Glückauf“ zu hören, die durch die Straßen unserer kleinen Stadt zog, um am festlichen Ehrentag der Werktätigen mit einem musikalischen Weckruf aufzuwarten. So erklang das beliebte Glückauf-Lied in vielen Straßen immer wieder neu neben bekannten Märschen und den klassischen Arbeiterliedern. Fiel der erste Mai auf einen warmen Frühlingstag mit viel Sonne am Morgen, fiel das Aufstehen nicht schwer, öffneten die Bürger weit die Fenster, und der Frühlingsmorgen hielt auch in unsere Wohnzimmer Einzug. In den Fensterscheiben brach sich das helle Frühlingslicht, und in den Strahlen der Sonne tanzten in der Stube die Sonnenstäubchen zu den Trommel-, Trompeten- und Posaunenklängen des vorbeiziehenden Blasorchesters.

Auf einem Stuhl lagen alle Sachen bereit, die frisch gebügelten Hose für jeden von uns drei Brüdern, die blütenweißen Pionierhemden mit gestärktem Kragen, die weißen Kniestrümpfe und geputzten Schuhe. Zum gemeinsamen Frühstück wurde das große Radio eingeschaltet. Am ersten Mai sendete Radio DDR 1 in jedem Jahr bis zum Beginn der Maifeierlichkeiten, die im ganzen Land Punkt zehn Uhr begannen, Volkslieder, darunter vor allem Wanderlieder und solche Lieder, die von Ermunterung, Aufbruch und Zuversicht kündeten: „Es zogen auf sonnigen Wegen“, „Der Mai ist gekommen“ und „Im Frühtau zu Berge“, dazwischen Pionier- und Aufbaulieder: „Die Heimat hat sich schön gemacht“, Brechts Aufbauwalzer oder das bekannte „Bau auf!“-Lied, beliebt war besonders die erste Chorfassung, die nach dem Krieg für den Rundfunk aufgenommen worden war und oft gesendet wurde.
Um zehn Uhr begann dann im Radio die Übertragung der Maidemonstration in der Karl-Marx-Allee in Ostberlin - mit dem zehnten Glockenschlag vom Roten Rathaus, der Begrüßung des Generalsekretärs der SED und der Rede des Vorsitzenden des Gewerkschaftsbundes. Lange Jahre war das Harry Tisch, der von Schöpfertum und Initiative, Planüberfüllung und dem glücklichen Leben im Sozialismus sprach, falls wir „heute so arbeiten, wie wir morgen leben möchten“. Manche fragten spöttisch, warum die Ergebnisse der Arbeit von heute für morgen zwischengelagert werden müssen. Nach der Maidemonstration in Berlin wurden im Radio den ganzen Nachmittag Arbeiter- und Kampflieder gespielt.

Indessen hatten wir uns gegen neun Uhr in der Schule eingefunden, und nun begann das große Nervenspiel, wie entgehe ich geschickt, sollte es mich treffen, der Aufforderung, ein Transparent oder eine Fahne zu tragen. In den Betrieben sah es nicht anders aus. Die Lehrer, es war in jedem Jahr so, waren stets nahe daran, laut und deutlich zu verzweifeln. Sie kannten alle Ausreden: „Ich habe mich gestern beim Sport verletzt, eine Zerrung in beiden Armen.“ Oder: „Ich darf vom Arzt aus nicht!“ Woraufhin dann bald zu hören war: „Jetzt ist Schluß! Ich will nichts mehr hören." - "Aber wenn es nun einmal der Arzt gesagt hat!" - "Schluß! Aus, du trägst jetzt dieses Transparent. Keine Diskussion mehr, du diese Fahne!“ An wem der Transparentkelch vorüberging, führte während der Demonstration lediglich ein kleines Fähnchen mit. Wobei die Staatsfahnen der sozialistischen Bruderländer unbeliebt waren, ebenso wie die Fahnen der DDR-Massenorganisationen, eigentlich waren alle Fahnen unbeliebt.

Wenn die Vororganisation abgeschlossen war, alle Transparente und Fahnen verteilt waren, die Lehrer endlich aufatmen konnten, ging es los. Mit den ersten Klängen vom Fanfarenzug marschierten wir wieder klassenweise zum großen Schultor hinaus. Dahinter die Jungen Pioniere, den Abschluß bildeten die FDJ-Mitglieder. Die Lehrer bildeten einen eigenen Marschblock. Einige liefen an den Seiten mit und achteten darauf, daß eine der Demonstration angemessene Ordnung auch am ersten Mai eingehalten wurde.
Dennoch kam es immer wieder, gleichsam wie im übrigen geselligen Leben des Sozialismus, zu Stillstand und Wartezeiten. Dann ging ein leichtes Stöhnen durch die Reihen: „Schon wieder!“ Die Transparentträger, die noch immer keinen Klassenkameraden hatten überzeugen können, das Transparent zu übernehmen, stützten sich auf ihre Losungen („Meine Liebe, meine Tat meiner Heimat DDR!“ oder "Wir lernen für den Weltfrieden!") – und warteten mit uns Fähnchenträgern auf das erlösende Weitermarschieren. War schließlich die Haupttribüne erreicht, winkten wir mit unseren Fähnchen den führenden Stadtgenossen zu und freuten uns nach Auflösung des Demonstrationszuges auf einen neugierigen Spaziergang durch die Stadt. Die Fahnen- und Transparentträger mußten noch zur Schule aufbrechen, um im Gebäude die Transparente und Fahnen abzulegen. Danach waren auch sie erlöst und frei für alle Maivergnügen.

Ohne Bratwurst mit Brötchen und viel Senf aus dem großen irdenen Senftopf keine Maifeier. Überall waren Bratwurststände aufgebaut, glühte die Holzkohle, klingelte das Geld in der Kasse, gab es an einem anderen Stand Süßigkeiten und Faßbrause. Beliebt waren auch die Gulaschkanonen der NVA, der GST oder Kampftruppen der Arbeiterklasse im Lustgarten, auf dem Sportplatz oder vor dem Jugendklubhaus. Traditionell gab es hier von freundlichen jungen Männern in Uniform, Kochmütze und –schürze zum kleinen Preis eine wunderbare Erbsensuppe - mit viel Speck, den wir uns nie genauer betrachteten. Die Suppe schmeckte herrlich. Die Werktätigen schickten ihre Kinder nach Hause zu den Müttern oder gaben ihnen Geld für ein Maivergnügen und begannen nach der Erbsensuppe Bier und Schnäpse zu trinken. Oder die ganze Familie wanderte zur Stillen Liebe oder zum Possen hinauf. In späteren Jahren wurden Familienausflüge auch oft und gern mit dem Trabant unternommen.

Alle Gaststätten hatten geöffnet, es wurde an diesem Tag viel getrunken, erzählt und gewankt. Einige Erbauer des Sozialismus vertranken ihre vor den Ehefrauen verheimlichten Prämien oder das Taschengeld, das die Angetrauten ihnen großzügig gewährt hatten. Zum Abschluß gab es am Maiabend ein Feuerwerk mit zahlreichen zum Himmel zischenden Raketen, krachendem Lärm und großem Sternenregen über der Stadt - und vielen Ahs und Ohs, wenn das Feuerwerk die Straßen und Plätze hell erleuchtete. Zahlreiche Bürger bekamen allerdings nach etlichen Bieren und Schnäpsen vom Sternenregen nicht mehr viel mit.

Anderntags begann wieder der graue Arbeitsalltag. In den Betrieben und öffentlichen Einrichtungen, in den städtischen Ämtern und Räten und in der SED-Kreisleitung verwalteten die Verantwortlichen wieder notgedrungen den allgemeinen Mangel, wie er im Sozialismus unausweichlich ist. Die Arbeiter und Bauern indessen gaben sich Mühe, ihre Arbeit so gut es ging zu verrichten, warteten gelegentlich auf Anweisungen oder lobten den erzwungenen Müßiggang, wenn das Arbeitsmaterial ausblieb, und glaubten nicht, daß ihr Arbeitsplatz gleichzeitig ein Kampfplatz für den Frieden sei, wie es eine Mailosung ihnen versuchte nahezulegen.

Im März 1989 gab das Zentralkomitee der SED, ganzseitig veröffentlich auf Seite 1 des SED-Zentralorgans Neues Deutschland, zum letzten Male die Losungen zum ersten Mai heraus. Eine lautete: „40 Jahre DDR - Alles mit dem Volk, alles durch das Volk, alles für das Volk!“ Eine andere: „Weiter voran unter dem Banner von Marx, Engels und Lenin!“ Nur wenige Monate später entschied sich eine Mehrheit im Volk eindrucksvoll dafür, weder unter einem Banner noch mit Marx, Engels und Lenin weiter voranzugehen.




Dank an Dorothea Kiefer für ergänzende Hinweise beim gemeinsamen Erinnern am Telefon. Dank auch an Antje Schulz für den Wandertip von einst zum Possen mit der ganzen Familie am 1. Mai.
 

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