Wie
der Sommer nach Sondershausen kommt
Für alle kleinen und großen Kinder das Sondershäuser
Sommermärchen
Es ist auf der ganzen Welt so. Wenn es dem Menschen zu gut
geht, erfassen ihn trübe Gedanken. Nicht anders ergeht es immer wieder dem empfindsamen
Frühling in Sondershausen. Es hilft ihm nur wenig, daß er einst im März
frohgemut mit Blumenkränzen und Nachtigallen das unsichtbare Stadttor
durchschritt - voller Freude, Lebenskraft und Zuversicht. Die Maikühle kommt ja
doch. Obwohl es in allen Gärten grünte und blühte, wie es das städtische Pflichtenheft
vorsah, es wurden auch reichlich frühlingshafte Bande geknüpft, alle
Frühlingsfarben konnten gezählt und auf Prüfbögen der städtischen
Frühlingsbeamten ausgewiesen werden, am ersten Maientag erfaßte ihn dennoch große
Betrübnis. Da half es auch wenig, daß nahezu alle Sondershäuser Stadtbürger ihn
lobten: Haben wir in diesem Jahr nicht einen wunderbaren Frühling! Ihm war es
zu kalt. Der städtische Frühlingsarzt notierte: bipolarer Weltschmerz bei
anhaltender Maikühle, länger als drei Wochen, arbeitsunfähig.
„Verlorene Zeit, verlorene Tage“, sprach der Frühling am nächsten
kühlen Morgen beim Spazierengehen im Schloßpark vor sich hin.“ Und stellte noch
betrübter fest: „Und die Hälfte meiner Zeit als Frühjahr ist ja auch schon
wieder rum.“ Wie im Fluge vergangen. Die Schwäne, die sich das anhörten,
bekümmerte das nicht sonderlich. In jedem Jahr sei das so, immer, wenn wir
einen kühlen Mai haben. Die Enten sahen noch nicht einmal auf, und auch die
anderen Spaziergänger hatten den klagenden Frühling bereits aus den Augen
verloren. Als er mit seinem Weltschmerz den Markt erreichte, klopfte er
kurzentschlossen beim Bürgermeister an, wurde hereingebeten und nahm dankbar
die Gelegenheit wahr, sich im Bürgermeisteramtszimmer einmal auszusprechen. Der
Bürgermeister beruhigend: „Alles halb so schlimm, so ist nun einmal das Leben“,
griff rasch zum Telefon und rief den Sommer an: „Geht es in diesem Jahr eher?“
„Ja“, sagte der Sommer. Er hatte den Anruf bereits erwartet,
seit dem frühen Morgen saß er neben dem Telefon, die Hand auf dem Hörer.
Jahreszeitenklatsch spricht sich schnell herum. Nach der Zusage begannen anderntags
sogleich im Rathaussaal zu den vier städtischen Jahreszeiten die Neuverhandlungen.
Der Bürgermeister hatte die Angelegenheit zur Chefsache erklärt. Am Tisch saßen
sich betrübter Frühling mit wärmendem Hipsterschal auf der einen und frohsinniger
Sommer im goldgelben Hemd auf der anderen Seite gegenüber, der Bürgermeister
trug ihnen den Textentwurf zum Neuvertrag vor. Zum Aufhellen der Stimmung tranken
sie vorsichtshalber ein Gläschen vom Guten. Dazu reichte der Bürgermeister gegen
die städtische Hausordnung teure Orientzigaretten, mit Mundstück, aus altem
Bestand.
Wie in alten Zeiten, die Bedingungen waren schnell angenommen.
Der Frühling zieht zur Gemütsaufhellung vom Schloßturm vorzeitig in den
lichthellen Westflügel des Schlosses, der Sommer vor seiner Zeit ins amtliche
Schloßturmzimmer. Dann noch dies und das und jenes und für dem Frühling die
Möglichkeit, die verbleibenden Tage bis zum kalendarischen Sommerbeginn als
Stadtschreiber zu verbringen. Für Gedichte und Elogen auf das kleinstädtische
Großstadtleben in Sondershausen, auf den Klimawandel und die Liebe. Und auf die
Loh-Musiker, die Noten und das Orchester, auf Sondershäuser Schulen mit angenehmem
Frontalunterricht und rebellische Kindergärten mit Nudelgerichten. Auf Eisbein
und Sauerkraut im Thüringer Hof - und schwere Sahnetorten im Cafe Pille. Der Frühling
war einverstanden, Der Sommer nahm noch einen Schluck aus dem Gläschen vom
Guten und war beschwipst und auch einverstanden. Der Bürgermeister ging zum Rathausöfchen
und zündete ein Feuerchen an. Über dem Rathaus stieg weißer Rauch auf. Der
Sommer war in sein Amt eingesetzt, vollgültig, auf einer Urkunde: Plautsch!, mit
dem schweren Bürgermeisteramtsstempel für vorzeitige Jahreswechsel versehen! Ab
dem ersten Juni würde ununterbrochen wie in jedem Jahr den ganzen Sommer über
die Feriensonne scheinen. Alle waren zufrieden, reichten sich die Hand und traten
gemeinsam zum Pressefoto vor das Rathaus. Es war sommerlich warm.
Als sich alle verabschiedet hatten, brach langsam die
Abenddämmerung herein, und in die Stadt hielt der städtische Abendfrieden seinen
Einzug. Vor dem Jechator acht betrachtete Daniel, in wenigen Wochen drei Jahre,
den aufgehenden Vollmond, der zu ihm ins Zimmer hineinleuchtete, nachdem seine
Mutter ihn zum Schlafen gebettet hatte, und hörte seinen Vater auf dem Balkon
noch etwas sagen. „Seltsam“, sagte der Vater, der noch eine Zigarette rauchte, „es
war heute den ganzen Tag über warm wie im August.“ – „Oder wie in Afrika“,
dachte Daniel bei sich, bevor er einschlief: „In Afrika ist immer August“. Das
hatte er aus dem Kindergarten mit nach Hause gebracht.
So kam in diesem Jahr der Sommer nach Sondershausen, so ist
es fast in jedem Jahr.
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