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Sonntag, 3. Juli 2022

 

Acht Wochen Abenteuer

Erinnerungen an Große Ferien in der Schulzeit


Von HUBERT APPENRODT

Letzter Schultag. Wir erhalten unsere Zeugnisse. Kein Unterricht mehr. Die Lehrer lesen Geschichten vor, die wir uns aussuchen durften. Frau Rosenstiel hat ihr Akkordeon mitgebracht. Wir singen alte und neue Volkslieder, Wanderlieder und Wohin soll denn die Reise gehn, ein Pionierlied. Letztes Klingelzeichen für acht Wochen, bis zum Beginn des neuen Schuljahrs im September. Rasch nach Hause. Meine Mutter zeigt sich über mein Zeugnis erfreut. In Betragen eine 3! Muß das sein?

 

Nach dem Mittagessen auf ins Bergbad. Ich treffe mich mit Schulkameraden auf der Liegewiese. Wir breiten unsere Decken aus. Nebenan sitzen mit angezogenen Beinen die Mädchen, schauen zu uns herüber und kichern. Aufbruch. Kurzes Abkühlen dann mit einem Sprung vom Beckenrand ins Wasser. Brustschwimmen und um die Wette kraulen, auf dem Rücken im Wasser toten Mann spielen. Wer mutig ist, springt kopfüber vom Dreimeterturm.

 

Langsam lassen die Kräfte nach. Heraus aus dem Becken. Im Laufen alles Wasser aus den Ohren und Haaren schütteln. Auf der Wiese blitzschnell die Dreieckbadehose wechseln. Ein Freund hält dafür hilfreich eine Decke hoch. Die Mädchen kichern dennoch. Alfred winkt ab und sagt: Die sind nun mal so. Wir geben uns überlegen und beachten sie nicht weiter.

 

Wir strecken uns auf unseren Decken aus, lassen die Sonne auf uns scheinen und schwärmen kindlich von dem, was wir bewundern; von Boxkämpfen und Horst Buchholz in den Glorreichen Sieben. Von Gangstern in Schwarz-Weiß-Filmen, von Cowboys im Westfernsehen, die aus der Hüfte schießen können und treffen. Wir träumen von Kaugummi und Coca Cola und wünschen uns für Schaubude und Bonanza einen besseren Westempfang.

 

Die Mädchen planschen im Wasser und halten beim Untertauchen die Nase zu. Wir sind hungrig und haben Durst. Alle zum Kiosk. Lange Schlange: eine Brause im Pappbecher, dazu gefüllte Waffeln oder eine Bockwurst mit viel Senf. Wer sich mehr leisten kann, gibt einem anderen etwas ab. Auf der Wiese hinter dem Kiosk ein Schüler aus einer oberen Klasse, viel älter als wir. Mit seiner Freundin, ganz ungeniert unter einer Decke. Seltsames Gebaren. Wir sehen uns an und grinsen, beißen in die Bockwurst und ahnen, wie groß Sehnsüchte sein können.

 

Noch einmal ins Wasser, noch einmal Ecktappen spielen. Es ist später Nachmittag geworden. Wir ziehen uns an, verabreden uns für den nächsten Tag und schlendern zurück in die Stadt. Zu Hause angekommen: erhöhte Temperatur, bald hohes Fieber. In der Nacht unruhiger Schlaf und Fieberphantasien. Am Morgen spätes Erwachen. Den Sonnenbrand drei Tage auskurieren. Dann wieder gemeinsam mit den Freunden über Wiesen und Felder, die Wälder der Hainleite oder die der Windleite durchstreifen. Waldhimbeeren sind eine Köstlichkeit. Aber nicht so genau hinsehen. Einfach vom Strauch abnehmen und essen. Zum Abend hin auf dem Heimweg an einem Feld halt machen. Kohlrabi stibitzen, an der Lederhose ein wenig abwischen und verzehren. Mundet gut wie eßbarer Sauerampfer. Den finden wir, wenn wir am Ufer der Wipper entlanggehen.

 

Einen Tag allein sein. Bäuchlings auf einer großen Wiese liegen. Den Kopf ein wenig anheben, mit den Augen gegen das Sonnenlicht blinzeln, Bienen und Schmetterlinge auf Blütensuche beobachten. Im Biologieunterricht bei Herrn Henze haben wir viel über Anatomie und das Leben von Insekten gelernt, über die Schönheit der Natur. Lehrreiche Stunden verwandeln Abneigung vor Ameisen und Furcht vor Spinnen in Wissen und Bewunderung. Auf einer Wiese gibt es viel zu entdecken, auf einem Grashalm eine Heuschrecke, dunkle Kugelkäfer unter einem feuchten Stein. Überall wunderbarer Klatschmohn. Die  rote Farbschönheit erfreut immer wieder.

 

An Regentagen lese ich gern die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, manchmal unter der Bettdecke bis in die tiefe Nacht hinein.. Oder in Büchern, die von großer Fahrt auf den Weltmeeren erzählen, von Segelschiffen, Schiffsjungen und Matrosen. Von Meuterei und verwegenen Piraten, die Handelsschiffe kapern und Kugeln aus schweren Kanonen auf ihre Verfolger regnen lassen. Sie entkommen jedesmal und erreichen ohne Verluste ihre Schatzinsel, sitzen am Abend am Lagerfeuer, trinken Rum und singen Loblieder auf Tapferkeit und freies Leben. Piraten tragen auf jedem Buchumschlag eine Augenklappe. Für das Lesen unter der Bettdecke habe ich eine große Taschenlampe mit fünf Batterien.

 

Große Ferien. Das sind auch Radtouren gemeinsam mit Freunden zur Barbarossahöhle oder zum Kyffhäuserdenkmal. Örtliche Ferienspiele, Ferienlager an der Selkemühle im Harz, zelten am Süßen See, ein sonntäglicher Fahrradausflug mit Friedhelm zu seinen Verwandten in Wernigerode mit Schloßbesichtigung hoch oben über der Stadt. Wir sind neugierig auf alles, was wir noch nicht kennen. Wir sind Kinder, manchmal staunen wir, mit offenem Mund. Manchmal sind wir ganz klein. Manchmal aber auch groß, vorlaut und übermütig.

 

Die Schule beginnt wieder, Am ersten Tag gibt es viel zu erzählen, über wunderbare Sommertage. Sie sind vergangen. Wehmut stellt sich ein. Zum Trost gibt es bald Herbstferien. In einem Kalender lese ich, Erinnerungen sind ein Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.

Freitag, 8. Oktober 2021

 Als Sondershausen Filmkulisse war

Erinnerungen und pikante Details über die Dreharbeiten für zwei DEFA-Filme in der Kreisstadt

 



Sondershausen bot nicht nur für die DEFA-Militärkomödie „Der Reserveheld“ im Jahr 1964 verschiedene Schauplätze. Fünf Jahre zuvor waren in der Stadt auch Szenen für den DEFA-Spielfilm „Schritt für Schritt“ im Schloßpark wie auch in der Kaserne gedreht worden, nach einer literarischen Vorlage von Karl Heinz Räppel, der Erzählung "Hanne, die Jawa und ich". Regie führte János Veiczi (1924-1987) ein ungarisch-deutscher Schauspieler, geschätzter Filmregisseur und Drehbuchautor, der vor allem durch seine Inszenierungen für das DEFA-Spielfilmstudio Bekanntheit erlangte, unter anderem für den Spionagethriller „For Eyes Only“, an dessen Drehbuch der Weimarer Schriftsteller Harry Thürk mitgewirkt hatte.

Im besagten Spielfilm „Schritt für Schritt“ gerät der damals sehr bekannte Schauspieler Raimund Schelcher mit seinem Filmsohn Hanne in Konflikt, weil dieser sich freiwillig zum Dienst in der eben neugegründeten Nationalen Volksarmee (NVA) verpflichtet hatte. Nach dem Ende des Krieges sollte niemand mehr ein Gewehr in die Hand nehmen; hatte sich nicht nur der von Raimund Schelcher dargestellte Dreher Rochlitz geschworen, der in all den Jahren zuvor mutig den Nationalsozialisten widerstanden hatte. Nach Gründung der NVA im Jahr 1956 war das damals für viele durchaus ein aufwühlendes Gesellschaftsthema, das reichlich Stoff für politische wie auch künstlerische Auseinandersetzung bot, in beiden Teilen Deutschlands.

Schlußendlich obsiegte im Film wie im tatsächlichen Leben die Erkenntnis, besser wohl Denkvorgabe, der Friede sei nicht nur mit Worten, er sei auch mit der Waffe zu verteidigen.

Bei den Dreharbeitem wirkten damals neben Raimund Schelcher gleichfalls bekannte Darsteller mit wie Erika Dunkelmann, Wilhelm Koch-Hooge, Harry Hindemith und Gisela May. Ich sehe noch heute, wie Raimund Schelcher im Schloßpark unter den schattigen Bäumen, links und rechts riesige Scheinwerfer, nach der Klappe im Gespräch mit seinem Filmpartner auf die Kamera zugeht, plötzlich inne hält, den Dialog unterbricht und mit den zuvor gegebenen Regieanweisungen hadert, vom Regisseur beruhigt werden muß. Raimund Schelcher galt als schwierig. Die Szene mußte noch einmal gedreht werden.

Wir Kinder am Rande des Szenegeschehens, die von Beginn an neugierig den Filmleuten bei ihrer Arbeit zusahen, hielten den Atem an und bewunderten Schauspieler und Filmleute gleichermaßen und staunten auch darüber, wie extra ein entferntes Brückengeländer an der kleinen Wipper im Park, rasch ausgeführt, weiß angestrichen worden war, zu unserer Verblüffung jedoch nur von einer der Kamera zugewandten Seite

„Schritt für Schritt“ wurde nur einmal in Sondershausen eine Woche lang aufgeführt. Dem Film war leider kein großer Erfolg beschieden. Im Gegensatz zum „Reservehelden“, der von DEFA-Regisseur Wolf gang Luderer (1924-1995) nach einem Drehbuch von Eulenspiegel-Autor Rudi Strahl in Szene gesetzt worden war.

Drehorte am Tag und im nächtlichen Sondershausen waren der Schloßspark, der Thüringe Hof wie auch die hiesige Kaserne sowie Straßen und Plätze ir der Stadt selbst und im nahegelegenen Dorf Schernberg. Premiere des „Reservehelden" war am 27. Februar 1965 im Theater der Freundschaft, in einem der beiden Kinos in unserer Stadt.

Vor der Kamera wirkten damals ebenfalls sehr bekannte Schauspieler mit wie Rolf Herricht als Reserveheld und Günter Simon als Regimentskommandeur, aber auch Herbert Köfer, Marita Böhme, Carmen-Maja Antoni, Peter Dommisch und Axel Triebel.

Und als Statisten und Kleindarsteller auf Zeit eben auch viele Bürger unserer Stadt, darunter zahlreiche meiner Klassenkameraden. Und es wurde damals viel in der Stadt erzählt.

Gerüchte von Gelagen im Bergbad und einem schweren Unfall

Einige Schauspieler seien am Ende des Tages nach den Dreharbeiten sehr trinkfreudig gewesen, sollen des Nachts im Bergbad den Zaun überklettert, Sekt getrunken und nackt gebadet haben. Es war Sommer, es war heiß.

Hinter vorgehaltener Hand sprach man leicht pikiert, aber durchaus mit großen leuchtenden Augen von Orgien. Wie im alten Rom, nur diesmal in Sondershausen. Und es soll an einem späten Abend auf der Chaussee zwischen Sondershausen und Berka wegen Trunkenheit eines Schauspielers am Steuer zu einem Autounfall mit tödlichem Ausgang für einen Mitfahrenden gekommen sein.

Bis heute weiß mir niemand zu sagen, was damals der Wahrheit entsprach oder lediglich als Gerücht in die Welt gesetzt worden war. Zeitungen klärten damals über vermeintliche menschliche Abgründe nicht auf.

Beim Aufbau eines neuen Morgenrot war Tragisches und erotisch Abseitiges nur außerhalb der Landesgrenzen, vornehmlich westwärts zugelassen. An die weisen Beschlüsse des Politbüros, der Städte und Gemeinden hatten sich einst alle zu halten, auch die Phantasie und die Träume der großen und kleinen Darsteller des Sozialismus, republikweit.

 

Mittwoch, 27. Februar 2019


Glückliche und wehmütige Tage

in Sondershausen von einst



Erinnerungen an Kindheit, ehemalige Schulkameraden und an die alte Burgstraße


VON HUBERT APPENRODT

Zu sehen ist die alte ehrwürdige Burgstraße in unserer kleinen beschaulichen Stadt, die, von der Hauptstraße abzweigend, zum lichthellen Markt hinaufführt, jedoch wegen der großen Häuserschatten immer ein wenig düster wirkt. Den Häusern auf beiden Seiten ist durch ihre Lage tagsüber nach wie vor wenig Sonnenlicht gegönnt.

In der Burgstraße wohnte einst auf der linken Straßenseite hochoben in einem betagten grauen Haus mit seiner Mutter unser Schulkamerad Bernd. Die Haustür knarrte stets beim Öffnen, das uralte Holz der Treppenstufen ebenso. Die kleine Mansardenwohnung mit Wohn- und Schlafstube war dann über einen uralten steilen Treppenaufgang erreichbar und erinnerte beim Heraufgehen wegen seiner wendelgangähnlichen Windungen eher an einen geheimnisvollen Turmaufstieg. Wir versuchten immer leise und unauffällig nach oben zu gelangen. Wir wollten nicht, daß sich die Türen öffneten und hellhörige Hausbewohner, eine kleine Kinderschar ist im Haus, neugierig nach unserem Wohin und Wozu fragten.

Hin und wieder erledigten wir gemeinsam bei Bernd unsere Schulaufgaben, lästerten oft über die seltsame Welt der Erwachsenen, oder wir spielten leidenschaftlich Karten. Brachen wir am Nachmittag von hier aus mit zwei, drei anderen Mitschülern zu unseren kleinen Stadt-, Park- und Waldabenteuern auf, durchquerten wir oft den großen, verwinkelten Innenhof zwischen den Häuserzeilen der Burg- und denen der Hauptstraße mit vielen aneinandergereihten dunklen Holz- und Kohlenschuppen, mit einigen kleinen Kaninchenställen dazwischen. Der Durchgang zur Hauptstraße war auch im Sommer immer kühl, die Tür zur Straße groß und wuchtig und beeindruckte immer wieder durch ihre schwere vornehme Schönheit. Wir waren damals jung, wir fühlten uns frisch und frei, wir waren neugierig auf das Leben, wir waren unbekümmert und rauchten gemeinsam im Park unsere erste Zigarette – nichts und niemand konnte uns etwas anhaben.

Auf der rechten Seite zu Beginn der Burgstraße an ihrem unteren Ende standen einige kleinere Wohnhäuser, die nach ihrem Abriß auf dem Foto nicht mehr zu sehen sind. In einer der alten Behausungen wohnte ein anderer älterer Schulkamerad – Feodor. Seine Mutter schaute oft tagsüber lange Zeit aus dem Fenster heraus. Verzweiflung und Not hatten zu einem tragischen Geschehen in ihrem Leben geführt, zum traurigen Verlust ihrer Gehfähigkeit. Sie verließ deshalb fast nie ihre Wohnung. Feos Mutter war dennoch nicht verbittert. Immer sehr freundlich zu uns Kindern, hatte sie für jeden von uns stets, vor allem für ihren Straßennachbarn Bernd, ein nettes Wort.

Die Jahre der schönen Kindheit vergingen ebenso rasch wie das jugendliche Frühlingserwachen: wir erlernten verschiedene Berufe. In jedem Leben von uns gibt es auch zutiefst traurige Stunden. So an einem unglücklichen Tag, an dem unser Schulfreund Bernd nach einem schweren Motorradunfall sein junges hoffnungsvolles Leben verlor, mit nur siebenundzwanzig Jahren. Seine Mutter überwand nie den Verlust ihres einzigen Sohnes. Für sie war seither jeder neue Tag abermals ein trauriger Tag. Sie freute sich jedoch, wenn sie jemanden von uns aus dem kleinen einstmaligen Freundeskreis in der Stadt traf und mit ihm über jene vergangene unbeschwerte Zeit vor dem verhängnisvollen Schicksalstag sprechen konnte.

Die Burgstraße gibt es noch immer. Sie weiß viel von ihren alten und neuen Bewohnern zu erzählen, von ihren Glücks- und Schicksalstagen. Vielleicht träumt auch sie manchmal von alten Zeiten, als der Fürst mit der hochherrschaftlichen Kutsche durch seine fürstliche Residenzstadt fuhr, jedoch nie die Burgstraße hinauffuhr. Dann wacht sie auf, darüber ein wenig verärgert, freut sich jedoch recht bald wieder an ihrem frischen, neuen Dasein und verzeiht, wie auch wir verzeihen, den und unseren Schattenseiten des Lebens. Der Fürst dachte vermutlich nie anders.

Foto:

Die alte Sondershäuser Burgstraße im späten Nachmittagslicht / Foto: Hubert Appenrodt

(Foto, aufgenommen mit einer Praktica-Kleinbildkamera aus Dresden, Kleinbildfilm im eigenen kleinen Labor entwickelt, das Foto hernach auf Fotopapier gebracht, alles als Schüler in einigen Sommerferien als Helfer in verschiedenen Kreisstadtbetrieben erarbeitet)

Mittwoch, 1. Februar 2017


Sondershausen im märchenschönen Winter

 

Ein Silvesterabend in der Stadt und
ein Neujahrstag auf dem Lande


Zum neuen Jahr – Großvaters Geschichten zum Neujahrstag und kein Durchkommen zum Backhaus


Von HUBERT APPENRODT

Was gehörte früher einmal zu einem gelungenen Silvesterabend? Radio und Fernseher hatten Empfangspause. Zur ausgelassenen Unterhaltung bis nach Mitternacht trugen die Silvestergäste selbst bei, unterstützt von Bowle, Bier und Sekt - bei gelegentlichem Konfettiregen und Werfen von Luftschlangen, woran die Kinder ihren Spaß hatten. Für den Sternenzauber am nächtlichen Raketenhimmel sorgte die Nachbarschaft, unsere Hündin Charly zitterte voller Angst vor dem Raketenlärm und fand unterm ausgezogenen Wohnzimmertisch Beistand und Trost von jedermann, bis zur erlösenden Stille am frühen Neujahrsmorgen.

Fehlen durfte auf keinem Fall zur großen Abendbrottafel eine große Schüssel mit Heringssalat, aufwendig mit allen denkbaren Verfeinerungen am Vormittag hergerichtet, ebensowenig eine Schüssel mit Kartoffelsalat und Wiener Würstchen und die klassische Bowle. Für alle drei Köstlichkeiten hatten sich tagsüber viele Hände geregt. Die beiden Brüder meiner Mutter, ihre Ehefrauen und Kinder verbrachten stets gern einige Jahre den Silvesterabend gemeinsam mit uns zusammen. So war das einige Zeit bei uns zu Hause in der Stadt.

Bei der väterlichen Verwandtschaft auf dem Lande im nahen Berka gehörte dazu, oft von meinem Cousin Wolfgang erzählt, die Ankündigung unseres gemeinsamen Großvaters Otto, zwischen zwei Zügen aus der Tabakspfeife, daß in der Silvesternacht die Haustiere sprechen können und bei dieser Gelegenheit einander erzählen, was ihnen vor allem an Ungemach im letzten Jahr widerfahren sei, als wir noch vertrauensselige Kinder waren und der aufsteigende Rauch aus der Tabakspfeife das Gesagte immer wieder bedeutungsvoll unterstrich - am Neujahrsmorgen in der kleinen guten Stube, umringt von neugierigen Kindern auch aus der Nachbarschaft. Ihnen allen gab er genüßlich zum Besten, was er diesmal in der vergangenen Nacht zu hören bekommen hatte. Es war ganz still im Raum.

Einige Münder standen weit offen, auch die der Zweifler. Jemand habe es versäumt, zum Abend hin das Schwein zu füttern, ein anderer vergessen, den Ziegenstall auszumisten, Milch für das Kätzchen sei verschüttet worden, die Kaninchen fanden wegen mangels an Futter eine Nacht nicht in den Schlaf, der treue Wachhund sei unsanft behandelt worden, und die Gänseschar, die zur Dämmerung allein nach Hause habe finden müssen, habe lange und ungeduldig vor verschlossenem Hoftor warten müssen. Dazu wurden alle Schuldigen beim Namen genannt. Niemand kam mit einer weißen Weste davon, es hatte sich übers Jahr einiges angesammelt. „Aber wir haben ja jetzt ein neues Jahr, da kann man manches wieder gut machen“, schloß tröstend der Großvater seine Ezählung und stopfte schmunzelnd eine neue Pfeife zur Feier des Tages und neuen Jahres.

Tante Irmgard, seine Tochter und Mutter meines Cousins, hatte das großväterliche Erzähltalent geerbt. Wenn ich zu Besuch war, und es gab in der herbstlichen Dämmerstunde Abendbrot, erzählte sie gern anschaulich neue Geschichten vom Gelben Männchen, das in einem kleinen Umspannhäuschen an der Chaussee nach Sondershausen sein zu Hause habe und allerlei Schabernack mit heimkehrenden Dorfbewohnern triebe. Tante Irmgard kannte die Namen all jener, denen es einen Streich gespielt hatte. Demnach setze sich das Gelbe Männchen bevorzugt auf den Gepäckträger von Fahrrädern oder auf den Hintersitz von knatternden Motorrädern, zum Leidwesen ihrer Besitzer, denen ein Vorwärtskommen plötzlich nur mit großen Mühen möglich war. Der Angstschweiß stünde ihnen bis nach Hause auf der Stirn. Vor dem Hoftor angekommen, sei das Gelbe Männchen ebenso schnell verschwunden wie es vordem aufgesprungen war. Unsere Tante versicherte, das sei erst in diesen Tagen diesem und jenem Dorfbewohner widerfahren, zwei, drei Häuser weiter könne man jederzeit nachfragen. Uns lief ein kleiner Schauer über den Rücken.

Einmal im Herbst heulte der Wind ein wenig ums Haus, und die Fensterläden klapperten: „Huch“, ließ sich beim abendlichen Broteschmieren unsere Tante urplötzlich vernehmen, „schaute nicht eben das Gelbe Männchen zum Fenster herein?“ Sie faßte sich mit Entsetzen an die Brust: „Eben war mir so.“ Uns gruselte es nun tatsächlich. Ein andernmal war sie nach kurzer Zeit so in ihr Erzählen vertieft, daß sie nicht bemerkte, wie sie ein Schnittbrettchen mit guter Butter zu beschmieren begann. Vorsichtig machten wir sie nach einer Weile darauf aufmerksam.

Unvergessen ist uns Kindern von damals ihr Bemühen, nachdem sie eines Tages zur Erntezeit auf einem großen runden Blech einen wunderbaren Apfelkuchen hergerichtet hatte, mit diesem auf dem Kopf zum Backhaus zu gelangen. Die Hoftür ließ sich noch öffnen, aber die ganze Straße war bis um die Kurve herum mit vollgepackten Erntewagen verstellt, die nach und nach zum Druschplatz an der Mühle vorgeschoben wurden. Es gab für unsere Tante kein Durchkommen, da überkam es sie. So laut, daß es jeder bei geschlossenem Fenster vernehmen konnte, ließ sie ihren Unmaut freien Lauf, im vertrauten Berkaer Wortklang: „Jetzt han se wedder die ganzen Wagens vor de Deer gestiepelt“, kleine Pause und zorniger, „daß me mit’n Koochen nicht deerchkämmt!“

Wir Kinder blieben auf Abstand. Wir vermieden es auch, nachzusehen, wie unsere Tante die Wagenburg doch noch bezwang. Wir wissen es bis heute nicht. Am nächsten überaus friedlichen Morgen gab es zu Malzkaffee mit Milch den berühmten, wohlschmeckenden Apfelkuchen unserer guten Tante.

Tante Irmgard starb viel zu früh, sie war grundgütig, Kindern herzlich zugetan, besaß Humor und konnte wunderbare Geschichten erzählen - mir ist sie bis heute unvergessen. In jedem Jahr erinnere ich mich neu an sie.

Märchenillustration von Alexander Zick (1845-1907) zu Dornröschen

 

Schneewittchen in der Hainleite
und auf verschneiter Schloßtreppe


Die Märchen der Brüder Grimm zur Weihnachtszeit
Erinnerungen an abendliche Märchenstunden in unserer Stadt

VON HUBERT APPENRODT

Wenn in der Vorweihnachtszeit der erste Schnee vom Himmel auf unsere Stadt herabfällt, sanft, still und leise, dann öffnet sich gleichsam das himmlische Tor auch für all unsere alten Märchen. Schneewittchen steht dann auf der verschneiten Schloßtreppe und schaut neugierig dem lebhaften Geschehen auf dem Sondershäuser Weihnachtsmarkt vor der Alten Wache zu. Das tapfere Schneiderlein läßt sich an einem Stand einen Fingerhut Mus reichen, während  Hänsel und Gretel am Pfefferkuchenstand Schneeweißchen und Rosenrot ins Cafe Pille zu Moccatorte und Pücklereis einladen. Am Glühweinstand tröstet sich der Fischer mit einem Gläschen nach dem anderen über seine stets unzufriedenen Frau hinweg, sie will nun, nachdem sie das fürstliche Landratsamt sah, Landrätin werden. Indessen gehen Rotkäppchen und seine Mutter von Stand zu Stand und kaufen am Ende für die kranke Großmutter eine Flasche Rotwein und bei Bäcker Hengstermann einen Kuchen. Der Bürgermeister im Rathaus hat Besuch von einer guten Fee erhalten und drei Wünsche frei. Er erhofft sich Einsicht, Nachsicht und eine weitere Amtszeit. Nach dem Gespräch im Bürgermeisteramt verschwindet die Fee wieder im Märchenbuch.

Als wir Kinder waren und noch nicht zur Schule gingen, las uns unsere Mutter jeden Abend zur guten Nacht ein Märchen der Brüder Grimm vor, aus zwei dicken Märchenbüchern mit Illustrationen von Lea Grundig. Jeden Abend, wir lagen bereits erwartungsfroh in unseren Betten, freuten wir uns vor dem Einschlafen auf das Gutenachtmärchen. Später kam ein Buch mit wunderbaren Illustrationen von Ludwig Richter hinzu, in dem wir im Herbst oder am winterliche Nachmittag oft blätterten oder später, als wir bereits zur Schule gingen, selbst lasen.

Die feinsinnigen, stimmungsvollen  Illustrationen trugen zur Verzauberung in uns bei. Wir waren dann ganz in uns selbst versunken - in prachtvollen Schlössern zu Hause, in prunkvollen Sälen und königlichen Gemächern, in tiefschwarzen Wäldern, hinter den sieben Bergen. Wenn wir später die heimatlichen Wälder durchstreiften, waren uns oft auch die Märchen der Brüder Grimm mit dem Geschehen in dunklen Wäldern, verwunschenen Brunnen und Quellen gegenwärtig. Einmal machte der Sondershäuser Redakteur Karl-Heinz Meyer rätselhaft geheimnisvoll auf sieben Hügel der Hainleite aufmerksam, bei guter Sicht könne man sie sehen und abzählen. Ob im Norden, Osten oder Westen oder im Süden – jeder findet wohl etwas in den Märchen, das von seiner Heimat erzählt.

In der Hainleite also weilte Schneewittchen, biß es unwissend in den vergifteten Apfel, war es in einem gläsernen Sarg aufgebahrt, bis zu seiner glücklichen Erlösung. Wir ließen uns am Wunschabend immer wieder das Märchen vom Schneewittchen vorlesen oder das von Dornröschen, uns gefielen Rapunzel und Rotkäppchen, Brüderchen und Schwesterchen und Allerleirauh, in der Weihnachtszeit besonders Hänsel und Gretel.

Später entdeckten wir, in welch schöner, wunderbarer, oft auch humorvoller Sprache die Märchen von Jakob und Wilhelm Grimm abgefaßt sind. Welche Grausamkeit doch manches Märchen enthielt, störte uns damals nicht, weil es immer ein gutes Ende gab, mit gerechter Strafe für das Böse und für die anderen, denen aus großer Not geholfen worden war, das Versprechen, als Lohn nunmehr ein langes, besseres Leben vor sich zu haben: „Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen.“

Das sollte auch in Sondershausen seit jeher nicht anders sein.



Freitag, 5. August 2016

Zum Tag des Bergmanns
mit Freddy Quinn auf der Lohbühne
 

Unvergessene Festtage im Lohpark: das Gedränge war stets groß, die Bankreihen vor der Lohbühne immer besetzt beim frohen Beisammensein am Ehrentag der Glückauf-Bergleute


VON HUBERT APPENRODT

In jedem Jahr freuten wir uns im Sommer auf den ersten Sonntag im Juli, auf den Tag des Bergmanns mit seiner Festlichkeit und seinen vielversprechenden Veranstaltungen im Lohpark. Bereits am Morgen zog die Bergmannskapelle mit einem kraftvollen „Glückauf“ durch die Straßen, um mit einem musikalischen Morgengruß die Bürger der Stadt auf den Ehrentag der Bergleute einzustimmen. Die ansehnlichen Uniformen und Ehrenkleider saßen tadellos, im Sonnenlicht glänzten die blankgeputzten Instrumente, und die Musiker spielten frisch auf, daß es allen eine Freude war - die Stubenfenster waren weit geöffnet, ebenso die Ohren und Herzen der Stadtbewohner.

Frohsinn und gute Laune setzten sich danach auf dem Festplatz im Lohpark fort, vom frühen Vormittag bis in den Abend hinein sorgten künstlerische Darbietungen auf der Lohbühne für allerlei Abwechslung. Das Lohorchester spielte, Volkstanzgruppen und Chöre der Stadt traten auf, und es gab auch Aufführungen der Konzert- und Gastspieldirektion zu bewundern, manchmal mit bekannten Künstlern, die wir vom Fernsehen her kannten. Die Organisatoren ließen sich alljährlich stets etwas Besonderes einfallen. Auch die Gaumenfreuden kamen nie zu kurz - an den Bratwurstrosten, in den Festzelten und an den Brauereiwagen mit Bierausschank, an den Verkaufsständen für Eis und Schokolade. Für uns Kinder war der Bergmannssonntag ein ebenso freudiger Tag wie für die Bergarbeiter und ihre Familien - und für die Bürger der Stadt, die alljährlich eingeladen waren, mit den Kaliwerkern ein frohes Beisammensein zu begehen.

Vorausgegangen waren zuvor Auszeichnungsveranstaltungen in verschiedenen Betriebsteilen und Brigaden und auf einer zentralen Festversammlung, bei denen Bergleute, aber auch Arbeiter des Kaliwerks und Angestellte mit beachtenswerten Leistungen als Aktivist oder als Verdienter Bergmann ausgezeichnet worden waren oder die Ernennung zum Meisterhauer erhalten hatten. Die Auszeichnungen waren Grund genug, die Freude darüber mit anderen zu teilen, vor allem zu begießen. Dafür gab es auf dem Festplatz ausreichend Gelegenheit.

Das Gedränge war stets groß, alle Bankreihen vor der Lohbühne immer besetzt. Die Bratwurstroste verbreiteten den ganzen Tag über ihren wohlriechenden Duft, die erwachsenen Männer tranken ihr Bier vom Riesenfaß in dickwandigen Gläsern, wozu verschiedene Brauereien des Landes festlich geschmückte Ausschankwagen nach Sondershausen entsandt hatten. Für uns Kinder gab es nach der Bratwurst mit Brötchen und viel Senf aus einem großen Topf neben dem Rost eine Faßbrause, später ein Eis und, wenn das Geld noch reichte, für den Heimweg eine kleine Tafel Schokolade. Hierfür hatten wir ein ausreichendes Taschengeld erhalten.

Kam die Dämmerstunde, hatten wir, wie den Eltern versprochen, nach Hause aufzubrechen. Das Bühnengeschehen war jedoch besonders an lauen, windstillen Sommerabenden noch weithin zu vernehmen. Zu Hause angekommen, lauschten wir deshalb oft noch eine Weile vor dem Haus, was aus dem Lohpark bis zu uns herüber drang. Fast immer spielte jetzt eine Kapelle zum Tanz auf, für die Neu- und Altverliebten vor der Lohbühne. Einmal gab es eine kurze Unterbrechung und dann die Ansage, daß jetzt ein junger Mann mit seiner Gitarre zu hören sei, ein musikalisches Talent aus Sondershausen, damals vielleicht um die neunzehn Jahre alt, der fast eine Stunde lang ein Solokonzert gab – vor allem mit beliebten Liedern von Freddy Quinn. Nach jedem Vortrag gab es Riesenbeifall, besonders für „Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong“ und „Junge, komm bald wieder“, und immer wieder laute Rufe nach Zugabe.

So erklang ein Lied nach dem anderen, über Liebe im Hafen und Matrosen auf hoher See, über Sehnsucht nach der Ferne, über Heimweh und Einsamkeit. Der wunderbare Gesang zur virtuos beherrschten Gitarre war sehr berührend und blieb vielen von uns unvergessen. Es war ein vortrefflicher Festtagsabschluß, über den in der Stadt noch lange gesprochen wurde.

Einige Tage später lenkte im Bergbad ein Klassenkamerad die Aufmerksamkeit auf einen jungen Mann, der auf einer Liegewiese seine Decke ausgebreitet hatte und leise auf seiner Gitarre spielte, mit leuchtenden Augen angehimmelt von einem jungen Mädchen neben ihm. „Das ist er, vom Bergmannstag.“ Und er fügte versonnen hinzu: „Gitarre müßte man spielen können – oder wenigstens Klavier.“

Freitag, 22. Juli 2016

DIE MÄRCHEN DER BRÜDER GRIMM IN UNSERER KINDHEIT

Eine Erinnerung an abendliche Märchenzeiten



MÄRCHENHAFTE LANDSCHAFT – WESTFÄLISCHE WASSERMÜHLE VON:
Andreas Achenbach (29. September 1815 in Kassel - 1. April 1910 in Düsseldorf)


VON HUBERT APPENRODT



Als wir Kinder waren und noch nicht zur Schule gingen, las uns unsere Mutter jeden Abend ein Märchen der Brüder Grimm vor, aus zwei dicken Märchenbüchern mit Illustrationen von Lea Grundig. Die Märchen seien sehr lehrreich. Jeden Abend, wir lagen bereits voll froher Erwartung in unseren Betten, freuten wir uns vor dem Einschlafen auf das Gutenachtmärchen. Später kam ein Buch mit wunderbaren Illustrationen von Ludwig Richter hinzu, in dem wir an manch grauem Regentag im Herbst oder bei tief stehender Sonne am winterliche Nachmittag oft blätterten oder später, als wir bereits zur Schule gingen, selbst lasen.



Die feinsinnigen, stimmungsvollen  Illustrationen trugen wesentlich zur Verzauberung in uns bei. Wir waren jedesmal dann ganz in uns selbst versunken - in prachtvollen Schlössern zu Hause, in prunkvollen Sälen und königlichen Gemächern, in tiefschwarzen Wäldern, hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen. Wenn wir vor unser Haus traten und zur Hainleite hinübersahen, jemand hatte uns darauf aufmerksam gemacht, konnten wie sieben Berge abzählen. Dort also weilte Schneewittchen, aß es unwissend den vergifteten Apfel, war es in einem gläsernen Sarg aufgebahrt, bis zu seiner glücklichen Erlösung. Oder wir bewunderten das tapfere Schneiderlein, wie es zwei Riesen hinters Licht führte und alle anderen Tapferkeitsproben gleichfalls einfallsreich und listig bestand. Wir hofften, nachdem wir das Märchen bereits kannten, mit dem Froschkönig und seinem getreuen Diener Heinrich auf Erlösung oder freuten uns mit den Bremer Stadtmusikanten, doch noch etwas besseres als den Tod gefunden zu haben, bevor am Abend die Nacht hereinbrach. Wir ließen uns am Wunschabend immer wieder das Märchen vom Schneewittchen vorlesen oder das von Dornröschen. Uns gefielen die Märchen von Rapunzel und Rotkäppchen, Brüderchen und Schwesterchen oder Allerleirauh, in der Weihnachtszeit besonders Hänsel und Gretel. Und bis heute kann ich mir keine anderen Illustrationen denken als jene von Lea Grundig und Ludwig Richter.



Später entdeckten wir, in welch schöner, wunderbarer, oft auch humorvoller Sprache die Märchen von Jakob und Wilhelm Grimm abgefaßt waren. Andererseits fiel uns erst viel später auf, welch Grausamkeit doch manches Märchen enthielt - was uns als Kinder damals weiter nicht störte, weil es immer Erlösung und ein gutes Ende gab, mit gerechter Strafe für das Böse und für die anderen, denen aus großer Not geholfen worden war, das Versprechen, von nun an ein langes, sorgenfreies Leben vor sich zu haben. Wie im richtigen Leben, wenn man das eine oder andere großzügig übersieht und nicht weiter beachtet – so daß auch wir nach einiger Zeit mit Jakob und Wilhelm Grimm sagen können: „Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie (und wir) lebten in lauter Freude zusammen.“



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DIE ERSTEN FÜNFZEHN MÄRCHEN DER BRÜDER GRIMM



In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, daß die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien. / Eine Katze hatte (indessen) Bekanntschaft mit einer Maus gemacht und ihr soviel von der großen Liebe und Freundschaft vorgesagt, die sie zu ihr trüge, daß die Maus endlich einwilligte, mit ihr zusammen in einem Haus zu wohnen und gemeinschaftliche Wirtschaft zu führen. / Sie waren aber so arm, daß sie nicht mehr das tägliche Brot hatten und nicht wußten, was sie (einander) sollten zu essen geben. / Bald danach kam der Küster zum Besuch ins Haus, da klagte ihm der Vater seine Not und erzählte, wie sein jüngster Sohn in allen Dingen so schlecht beschlagen wäre, er wüßte nichts und lernte nichts.



(Und) Es dauerte nicht lange, so klopfte jemand an die Haustür und rief 'macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht.' / Da sah der getreue Johannes, daß es nicht mehr zu ändern war, und suchte mit schwerem Herzen und vielem Seufzen aus dem großen Bund den Schlüssel heraus. / Da ward der Fleischer zornig, griff nach einem Besenstiel und jagte ihn hinaus. / Da nahm er die Geige vom Rücken und fiedelte eins, daß es durch die Bäume schallte. / Die Mutter aber saß nun den ganzen Tag und trauerte, so daß der kleinste Sohn, der immer bei ihr war, und den sie nach der Bibel Benjamin nannte, zu ihr sprach ‚liebe Mutter, warum bist du so traurig?’ / Da gingen sie zusammen fort auf den Berg, und weil es ein heller Tag war, blieben sie bis zum Abend.



Es trug sich aber zu, daß der König des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. / Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, daß er still hielt und horchte. / Nun war der König in großer Freude, er hielt aber die Königin in einer Kammer verborgen bis auf den Sonntag, wo das Kind getauft werden sollte. / Da erschrak der Königssohn und sprach ‚so soll mir nun und nimmermehr meine schöne Braut ein Spinnrad anrühren.’ / Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen.





Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich

Katze und Maus in Gesellschaft

Marienkind

Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

Der Wolf und die sieben jungen Geißlein

Der treue Johannes

Der gute Handel

Der wunderliche Spielmann

Die zwölf Brüder

Das Lumpengesindel

Brüderchen und Schwesterchen

Rapunzel

Die drei Männlein im Walde

Die drei Spinnerinnen

Hänsel und Gretel


MÄRCHENHAFTE LANDSCHAFT Gemälde von Andreas Achenbach (29. September 1815 in Kassel - 1. April 1910 in Düsseldorf)