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Sonntag, 15. Mai 2016


Untergehende Sonne an einem stillen Abend im Kyffhäuserkreis, nach einem langen Frühlingstag, besinnliche Landschaft bei Bad Frankenhausen - Foto: Tobias Schindler


Vor langer Zeit an einem Frühlingstag in Sondershausen


In der alten Schäferei treffen die Schwalben aus dem Süden ein, die Schwanenpaare ziehen sich im Park zum Brüten zurück, Dirigent Wiesenhütter probt mit dem Lohorchester Vivaldis Jahreszeiten
 



VON HUBERT APPENRODT



Auf einem kahlen Ast, der zu einem Kastanienbaum im Schloßpark gehört, taut der letzte Schnee vom Winter, der nun vergangen ist. Nur hier und da verblieb ein wenig Schnee. Dicke Tropfen fallen im hellen Frühlingslicht auf den Wegesrand und versetzen für einen Augenblick ein neugieriges Eichhörnchen in Erstaunen – an einem sonnigen Tag, als es die Kleine Wipper noch gab und die Mühle am Parkeingang, nahe der kleinen und großen Wipperbrücke.


In den Stallungen der alten Schäferei Dötzel am Schwarzen Bären sind aus dem fernen Afrika die ersten Rauchschwalben eingetroffen, in ihre alten Kugelnester, die sogleich ausgebessert werden, mit Speichel, Lehm- und Erdklümpchen, versehen mit Heu- und Strohhalmen. Später werden aus dem Süden Mehlschwalben folgen, die mit Vorliebe an den Außenwänden der Schafställe ihre Nester anbringen. Zu den Vorboten des Frühlings zählen auch die Schneeglöckchen. In einem viel bewunderten Garten nahe dem Jugendklubhaus blühen tausend Schneeglöckchen, von Februar bis Ende März, in jedem Frühjahr solange es den Garten gibt.

Als Frühlingsvorboten gelten die geselligen Stare und an den städtischen Gewässern die zierlichen Bachstelzen. Mauersegler an den Türmen der Stadt und Nachtigallen im Park werden erst Ende April erwartet. In den Wäldern der Wind- und Hainleite erwachen Waldameisen aus ihrer Winterstarre, geweckt von der Frühsonne, deren Strahlen ihre angelegten Wohn- und Lebenshügel erwärmen. Die Ameisen durcheilen sogleich die Gänge nach oben ins Freie, um sich von der Sonne wärmen zu lassen. Danach geben sie die Wärme in den Gängen und Bruträumen an den großen Ameisenhügel ab.

Die Sonne erfreut Mensch und Natur. Und wer eben noch krank war, schöpft am hellen Frühlingstag frischen Lebensmut und neue Zuversicht. Am Erwachen der Natur im Park und in den Anlagen, in den Vorgärten und in den Wäldern haben die kleinen und großen Stadtbürger gleichermaßen ihre Freude. „Nun will der Lenz uns grüßen“ singen voller Glücksgefühl in einem Raum neben der Aula der Käthe-Kollwitz-Schule Mädchen und Jungen einer dritten Klasse. Frau Rosenstiel begleitet sie dazu auf dem Akkordeon. Die Schüler haben sich zum Singen erhoben und können beim Gesang zum Fenster hin über die Dächer von Sondershausen hinwegschauen, im Hintergrund sind die flach ansteigenden Felder der Windleite zu sehen, die bald für die Frühjahrsaussaat beackert werden.

Am Haus der Kunst stellt zu dieser Zeit Herr Gertler aus dem Schersental sein Fahrrad ab und eilt mit seiner Violine zur Orchesterprobe für Vivaldis Jahreszeiten, dessen Frühlingssatz am Abend in einem Lohkonzert erklingen soll. Dirigent Gerhart Wiesenhütter hebt den Taktstock und gibt das Zeichen zum Einsatz, die Musiker beginnen gut vorbereitet mit virtuosem Spiel. Die feinsinnige Musik aus dem Barock erwärmt auch ihre Herzen.

In der Hospitalstraße schaltet Schuldirektor Löhrius das Radio an und sagt: „Heute wollen wir einmal nicht traurig sein.“ Er dreht sich lächelnd zu seiner Frau um und fragt leise: „Darf ich bitten?“ Und beide tanzen versonnen zum Donauwalzer in ihrem Wohnzimmer um den großen Stubentisch herum. Wie in alten unbeschwerten Tagen, von denen sie glaubten, sie seien für immer vergangen, weil sie vor Jahren ihren kleinen Sohn verloren. Als der Walzer verklungen ist, sagt Frau Löhrius: „Vielleicht hat uns unser lieber Junge soeben zugesehen.“ –„Und sich mit uns gefreut.“

Im Kräuter- und Gemüsegarten indessen, den es damals am Krankenhaus noch gab, unterbricht zur gleichen Zeit Herr Aschoff das Herrichten eines Frühjahrsbeets und greift mit der Hand ins lockere Erdreich. Ich komme gerade aus der Schule. Er ruft mich freundlich zu sich und hält mir seine flache Hand mit der Gartenerde entgegen: „Darin ist soviel Leben, sichtbares und unsichtbares, mehr als es Menschen auf dieser Erde gibt.“ – „Ja“, sage ich, „darüber haben wir heute im Biologieunterricht gesprochen. Bei Herrn Henze.“ - „Alles Leben erwacht neu“, sagt Herr Aschoff, „dafür richte ich das Beet her.“

Zu Hause schlage ich die Zeitung auf. Auf der Lokalseite lese ich eine kleine Notiz zum Frühlingsanfang: Am ersten Frühlingstag schien die Sonne. Im Schloßpark haben sich die Schwanenpaare zum Brüten zurückgezogen, darunter auch Schwan Hans und seine treue Begleiterin. Ein Eichhörnchen suchte und fand eine Nuß aus seinem Wintervorrat und verzog sich rasch in einem Baumwipfel.

 

Samstag, 14. Mai 2016

Heraus zum ersten Mai in Sondershausen

Heraus zum ersten Mai in Sondershausen!

Eine Erinnerung an Vorwoche und Vorabend zum ersten Mai, als wir noch zur Schule gingen


VON HUBERT APPENRODT



In der Vorwoche zum ersten Mai trafen wir uns am Nachmittag in der Schule, um auf dem Pausenhof die Transparente zu gestalten, die die einzelnen Klassen während der Maidemonstration in unserer kleinen ehemaligen Residenzstadt mitführen sollten. Dafür hatte unser Zeichenlehrer und Kunsterzieher Helmut Frenzel einige Schüler angesprochen. Aus dem Abstellraum neben dem Fahrradschuppen holten wir die Transparente vom vergangenen Jahr hervor, die irgendwann einmal im Werkunterricht angefertigt worden waren. Wir entfernten die alte Beschriftung, versahen den Rahmen mit einer neuen Bespannung und gingen mit Pinsel und Farbe frisch ans neue Losungswerk. Mißlang eine Beschriftung, weil ein Wort zu lang war, am Ende der Platz nicht reichte, halfen eine neue Bespannung und eine genauere Vorskizze weiter. Die Losungen ergaben sich aus dem Schul- und Pionierleben, waren vorher besprochen und ausgewählt worden: „Wir Kinder wollen keinen Krieg! Wir lernen für den Frieden!“ oder: „Gute Noten und Zeugnisse – unser Beitrag zum Aufbau des Sozialismus!“, „Wir lernen für eine bessere Zukunft!“.



Einem Aufruf der Pionierorganisation folgend, brachten in einem Jahr einige Schüler kleine Leiterwagen in der Maivorwoche mit zur Schule, die mit der Hand gezogen werden konnten, und wir fertigten einen Pionierexpress – zu Ehren irgendeines Parteitags oder Jahrestags der DDR. Mit Pappe statteten wir den ersten Wagen mit Tender, Führerstand und gemütlichem Lokführer aus und einer schwebenden dicken Rauwolke über dem Schornstein der Lokomotive. Die drei Wagen hinter ihr erhielten Abteilfenster, aus denen glückliche Mädchen und freundliche Jungen aus aller Welt schauten, in Freundschaft verbunden: Junge Pioniere und Chinesen, Afrikaner und sowjetischen Pioniere. Weil der Express die erste Zugfahrt bestens bestand, zwei kräftige Jungen zogen mit ihm eine Runde auf dem großen Pausenhof, wurde er am nächsten Tag mitgeführt. An der Seite liefen Junge Pioniere in blütenweißem Pionierhemd mit Fähnchen oder mit Friedenstauben auf einer Transparentstange, die mit bunten Bändern und dem Wort Frieden in vielen Sprachen versehen waren: Pax, Mir, Peace.



Der Fackelzug am Vorabend



War der Vortag zum ersten Mai gekommen, gab es am Abend einen Fackelzug durch die Straßen unserer Stadt. Dazu trafen wir uns zur Abenddämmerung auf dem großen Pausenhof unserer Käthe-Kollwitz-Schule, die Jungen Pioniere und FDJler und unsere Lehrer. Die Mitglieder des Fanfarenzuges in weißem Pionier- oder blauem FDJ-Hemd brachten ihre Instrumente mit – die schweren und leichten Trommeln und natürlich die Fanfaren. Die Lehrer verteilten Fackeln an die Außenläufer, die, bevor wir loszogen, an einer Hauptfackel entzündet wurden. Danach nahmen wir wieder hinter dem Fanfarenzug klassenweise Aufstellung, zuerst die Jungpioniere, hinter ihnen in späteren Jahren die Thälmannpioniere. Den Abschluß bildeten die Mädchen und Jungen der oberen Klassen im FDJ-Hemd. Die Mädchen kicherten fortwährend, die Jungen strahlten Erhabenheit aus, gaben ein wenig an und freuten sich auf das Herumstromern mit den Mädchen nach Ende des Fackelzugs. Einige vorbildliche artige großen Kinder gingen sofort nach Hause – Papa und Mama hatten es so angeordnet



Wenn Herbert Bartsch, der Pionierleiter unserer Schule und Leiter des Fanfarenzuges, den Tambourstab hob und das Zeichen zum Beginn gab, trat Stille ein, und wir marschierten los. Zum Schultor hinaus auf die Alexander-Puschkin-Promenade, die Jechastraße hinunter, um dann zum Sportplatz abzubiegen oder in späteren Jahren auf die lange Hauptstraße zu gelangen. An den Seiten die Lehrer und einige Eltern, die darauf achteten, daß nichts passierte, das Frozzeln und Herumalbern sich in Grenzen hielt.



In den Anfangsjahren, wie bereits erwähnt, endete unser Fackelzug auf dem Sportplatz mit einer Abschlußrede unseres Freundschaftspionierleiters zur Bedeutung des 1. Mais für uns Pioniere und FDJ-Mitglieder. So erinnert sich aus unserer Klasse meine Mitschülerin Anni. Ich erinnere mich, daß er auch einmal in der der Lohstraße endete, in der Nähe der errichteten Maitribüne, die bis zum anderen Morgen von freiwilligen Helfern der Volkspolizei bewacht wurde. Es hätte ja jemand eine Losung feinsinnig übermalen können, mit Datumsangabe: 17. Juni 1953. In der Lohstraße war ein kleines Feuer entfacht worden für die Fackelreste, überwacht von freiwilligen Feuerwehrleuten der Stadt, die dafür sorgten, daß weder Flammen noch Funkenflug einen Schaden anrichten konnten.



Nach Auflösung des Fackelzuges gingen die Kleinen mit ihren Eltern nach Hause. Wir Größeren stromerten vor dem Heimweg in kleinen Gruppen neugierig noch durch die Stadt, die Mutigen auch durch den unbeleuchteten Schloßpark. War es am Vorabend bereits sommerwarm, waren in der Stadt Türen und Fenster der Gaststätten weit geöffnet. Und der trunkene Lärm drang bis auf die Straße und hielt bis weit nach Mitternacht an. Verdiente Werktätige des Volkes hatten auf feierlichen Betriebsversammlungen zum ersten Mai, dem „Internationaler Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus“, Auszeichnungen und Prämien erhalten. Mitunter führte das in fortgeschrittener Gaststättenstunde zu neidvollen Bemerkungen: „Warum wurde der eigentlich ausgezeichnet? Weil er in der Partei ist?“ – „Laß ihn doch!“ War der Betroffene in Sichtweite, konnte es auch heißen. „Komm, gib einen aus – und alles ist gut!“



Anni aus meiner Klasse erinnert sich:
Der Abend vor dem 1. Mai  war ganz geheimnisvoll. Wir fühlten uns schon wie die „Großen“. Hinter dem Fanfarenzug marschierten die Jungen Pioniere, danach kamen die FDJ-Mitglieder. Wir sind zum Sportplatz marschiert, diesen buckeligen Weg zum Jugendklubhaus hinunter. An soviel kann ich mich auch nicht erinnern. Ob wir die letzte Schule dann waren? Ich selber war eine Zeitlang im Fanfarenzug ganz stolz darauf, als Tieftrommler mitzuwirken. Die Abschlußrede auf dem Sportplatz hielt Herrn Bartsch, unser Freundschaftspionierleiter an der Schule, bevor wir die Fackeln, die inzwischen fast abgebrannt waren, auftürmten – „Für Frieden und Sozialismus, seid bereit!“ -  „Immer bereit!“  Es war ein Friedensfeuer.

Am 1. Mai war unser Marschroute: Von der Käthe-Kollwitz-Schule auf die Alexander-Puschkin-Promenade zum Stadtcafe. Hier kamen die Schüler und Lehrer der Geschwister-Scholl-Schule dazu. Dann ging es zum  heutigen Busbahnhof, die Straße zum Gericht herauf, dann rechts herunter in Richtung Lohstraße. Auf Höhe der alten Ladenstraße war die große Maitribüne errichtet worden. An ihr vorbei marschierten wir in Richtung Post und alter Feuerwehr zum Marktplatz. Dort löste sich der Maiumzug auf, und das bunte Treiben begann.

Meine  Füße taten weh von den neuen weißen Igelittschuhen. Obwohl ich die hübschen weißen Kniestrümpfe trug. Daran kann ich mich sehr gut erinnern. Schuhe nannte sich das, die Dinger kamen wohl auch nur 10 Mark. Aber mehr war bei Mutti damals, in anderen Zeiten als heute, nicht in der Familienkasse.
 



Ärzte, Schwestern und Angestellte des Kreiskrankenhauses Sondershausen auf einer Demonstration zum 1. Mai in der oberen Leninallee - mit Hubert Johann Otto Appenrodt, seinem Bruder Klaus, ihrem Vater, mit Regina Jurk und ihrem Vater, ebenfalls Krankenpfleger


In blütenweißem Pionierhemd an der Maitribüne vorbei


Aus vergangener Zeit: An einem 1. Mai in unserer Kleinstadt – eine Erinnerung



VON HUBERT APPENRODT

In den Morgenstunden war zum ersten Mai immer die Werkskapelle des Kaliwerks „Glückauf“ zu hören, die durch die Straßen unserer kleinen Stadt zog, um am festlichen Ehrentag der Werktätigen mit einem musikalischen Weckruf aufzuwarten. So erklang das beliebte Glückauf-Lied in vielen Straßen immer wieder neu neben bekannten Märschen und den klassischen Arbeiterliedern. Fiel der erste Mai auf einen warmen Frühlingstag mit viel Sonne am Morgen, fiel das Aufstehen nicht schwer, öffneten die Bürger weit die Fenster, und der Frühlingsmorgen hielt auch in unsere Wohnzimmer Einzug. In den Fensterscheiben brach sich das helle Frühlingslicht, und in den Strahlen der Sonne tanzten in der Stube die Sonnenstäubchen zu den Trommel-, Trompeten- und Posaunenklängen des vorbeiziehenden Blasorchesters.

Auf einem Stuhl lagen alle Sachen bereit, die frisch gebügelten Hose für jeden von uns drei Brüdern, die blütenweißen Pionierhemden mit gestärktem Kragen, die weißen Kniestrümpfe und geputzten Schuhe. Zum gemeinsamen Frühstück wurde das große Radio eingeschaltet. Am ersten Mai sendete Radio DDR 1 in jedem Jahr bis zum Beginn der Maifeierlichkeiten, die im ganzen Land Punkt zehn Uhr begannen, Volkslieder, darunter vor allem Wanderlieder und solche Lieder, die von Ermunterung, Aufbruch und Zuversicht kündeten: „Es zogen auf sonnigen Wegen“, „Der Mai ist gekommen“ und „Im Frühtau zu Berge“, dazwischen Pionier- und Aufbaulieder: „Die Heimat hat sich schön gemacht“, Brechts Aufbauwalzer oder das bekannte „Bau auf!“-Lied, beliebt war besonders die erste Chorfassung, die nach dem Krieg für den Rundfunk aufgenommen worden war und oft gesendet wurde.
Um zehn Uhr begann dann im Radio die Übertragung der Maidemonstration in der Karl-Marx-Allee in Ostberlin - mit dem zehnten Glockenschlag vom Roten Rathaus, der Begrüßung des Generalsekretärs der SED und der Rede des Vorsitzenden des Gewerkschaftsbundes. Lange Jahre war das Harry Tisch, der von Schöpfertum und Initiative, Planüberfüllung und dem glücklichen Leben im Sozialismus sprach, falls wir „heute so arbeiten, wie wir morgen leben möchten“. Manche fragten spöttisch, warum die Ergebnisse der Arbeit von heute für morgen zwischengelagert werden müssen. Nach der Maidemonstration in Berlin wurden im Radio den ganzen Nachmittag Arbeiter- und Kampflieder gespielt.

Indessen hatten wir uns gegen neun Uhr in der Schule eingefunden, und nun begann das große Nervenspiel, wie entgehe ich geschickt, sollte es mich treffen, der Aufforderung, ein Transparent oder eine Fahne zu tragen. In den Betrieben sah es nicht anders aus. Die Lehrer, es war in jedem Jahr so, waren stets nahe daran, laut und deutlich zu verzweifeln. Sie kannten alle Ausreden: „Ich habe mich gestern beim Sport verletzt, eine Zerrung in beiden Armen.“ Oder: „Ich darf vom Arzt aus nicht!“ Woraufhin dann bald zu hören war: „Jetzt ist Schluß! Ich will nichts mehr hören." - "Aber wenn es nun einmal der Arzt gesagt hat!" - "Schluß! Aus, du trägst jetzt dieses Transparent. Keine Diskussion mehr, du diese Fahne!“ An wem der Transparentkelch vorüberging, führte während der Demonstration lediglich ein kleines Fähnchen mit. Wobei die Staatsfahnen der sozialistischen Bruderländer unbeliebt waren, ebenso wie die Fahnen der DDR-Massenorganisationen, eigentlich waren alle Fahnen unbeliebt.

Wenn die Vororganisation abgeschlossen war, alle Transparente und Fahnen verteilt waren, die Lehrer endlich aufatmen konnten, ging es los. Mit den ersten Klängen vom Fanfarenzug marschierten wir wieder klassenweise zum großen Schultor hinaus. Dahinter die Jungen Pioniere, den Abschluß bildeten die FDJ-Mitglieder. Die Lehrer bildeten einen eigenen Marschblock. Einige liefen an den Seiten mit und achteten darauf, daß eine der Demonstration angemessene Ordnung auch am ersten Mai eingehalten wurde.
Dennoch kam es immer wieder, gleichsam wie im übrigen geselligen Leben des Sozialismus, zu Stillstand und Wartezeiten. Dann ging ein leichtes Stöhnen durch die Reihen: „Schon wieder!“ Die Transparentträger, die noch immer keinen Klassenkameraden hatten überzeugen können, das Transparent zu übernehmen, stützten sich auf ihre Losungen („Meine Liebe, meine Tat meiner Heimat DDR!“ oder "Wir lernen für den Weltfrieden!") – und warteten mit uns Fähnchenträgern auf das erlösende Weitermarschieren. War schließlich die Haupttribüne erreicht, winkten wir mit unseren Fähnchen den führenden Stadtgenossen zu und freuten uns nach Auflösung des Demonstrationszuges auf einen neugierigen Spaziergang durch die Stadt. Die Fahnen- und Transparentträger mußten noch zur Schule aufbrechen, um im Gebäude die Transparente und Fahnen abzulegen. Danach waren auch sie erlöst und frei für alle Maivergnügen.

Ohne Bratwurst mit Brötchen und viel Senf aus dem großen irdenen Senftopf keine Maifeier. Überall waren Bratwurststände aufgebaut, glühte die Holzkohle, klingelte das Geld in der Kasse, gab es an einem anderen Stand Süßigkeiten und Faßbrause. Beliebt waren auch die Gulaschkanonen der NVA, der GST oder Kampftruppen der Arbeiterklasse im Lustgarten, auf dem Sportplatz oder vor dem Jugendklubhaus. Traditionell gab es hier von freundlichen jungen Männern in Uniform, Kochmütze und –schürze zum kleinen Preis eine wunderbare Erbsensuppe - mit viel Speck, den wir uns nie genauer betrachteten. Die Suppe schmeckte herrlich. Die Werktätigen schickten ihre Kinder nach Hause zu den Müttern oder gaben ihnen Geld für ein Maivergnügen und begannen nach der Erbsensuppe Bier und Schnäpse zu trinken. Oder die ganze Familie wanderte zur Stillen Liebe oder zum Possen hinauf. In späteren Jahren wurden Familienausflüge auch oft und gern mit dem Trabant unternommen.

Alle Gaststätten hatten geöffnet, es wurde an diesem Tag viel getrunken, erzählt und gewankt. Einige Erbauer des Sozialismus vertranken ihre vor den Ehefrauen verheimlichten Prämien oder das Taschengeld, das die Angetrauten ihnen großzügig gewährt hatten. Zum Abschluß gab es am Maiabend ein Feuerwerk mit zahlreichen zum Himmel zischenden Raketen, krachendem Lärm und großem Sternenregen über der Stadt - und vielen Ahs und Ohs, wenn das Feuerwerk die Straßen und Plätze hell erleuchtete. Zahlreiche Bürger bekamen allerdings nach etlichen Bieren und Schnäpsen vom Sternenregen nicht mehr viel mit.

Anderntags begann wieder der graue Arbeitsalltag. In den Betrieben und öffentlichen Einrichtungen, in den städtischen Ämtern und Räten und in der SED-Kreisleitung verwalteten die Verantwortlichen wieder notgedrungen den allgemeinen Mangel, wie er im Sozialismus unausweichlich ist. Die Arbeiter und Bauern indessen gaben sich Mühe, ihre Arbeit so gut es ging zu verrichten, warteten gelegentlich auf Anweisungen oder lobten den erzwungenen Müßiggang, wenn das Arbeitsmaterial ausblieb, und glaubten nicht, daß ihr Arbeitsplatz gleichzeitig ein Kampfplatz für den Frieden sei, wie es eine Mailosung ihnen versuchte nahezulegen.

Im März 1989 gab das Zentralkomitee der SED, ganzseitig veröffentlich auf Seite 1 des SED-Zentralorgans Neues Deutschland, zum letzten Male die Losungen zum ersten Mai heraus. Eine lautete: „40 Jahre DDR - Alles mit dem Volk, alles durch das Volk, alles für das Volk!“ Eine andere: „Weiter voran unter dem Banner von Marx, Engels und Lenin!“ Nur wenige Monate später entschied sich eine Mehrheit im Volk eindrucksvoll dafür, weder unter einem Banner noch mit Marx, Engels und Lenin weiter voranzugehen.




Dank an Dorothea Kiefer für ergänzende Hinweise beim gemeinsamen Erinnern am Telefon. Dank auch an Antje Schulz für den Wandertip von einst zum Possen mit der ganzen Familie am 1. Mai.
 

Erwartungsfrohe Ente an der Wipperbrücke - gern und heimlich gefüttert von Kindern und ihren nachsichtigen Eltern.
Foto: Hubert Appenrodt

Junge Rebellen und hungrige Enten

 

Eine Sondershäuser Alltagsgeschichte über milchgesichtige junge Rebellen an der Wipperbrücke



VON HUBERT APPENRODT



Der Winter ist still und nahezu unauffällig vergangen, und mit ihm verging gleichsam unbemerkt jener Februartag, an dem der Rat der Stadt vor sechs Jahren noch einmal in der „Sonderhäuser Allgemeinen“ seine Bürger ermahnte, trotz vielen Schnees, schweren Eisgangs und frostiger Tage keinesfalls an den Gewässern wildlebende Enten und Schwäne zu füttern – bei Androhung eines Ordnungsgeldes. Seither gibt es mit der städtischen Notverordnung zum durchaus sinnvollen Erhalt der Uferbefestigungen gegen Wühlarbeiten kleiner Nager jedoch auch die Auflehnung, eine Rebellion ehemals gesetzestreuer Bürger – zum Leidwesen des Bürgermeisters und seiner Stadträte.



Die milchgesichtigen Rebellen sind nahezu allesamt bekennende Ringelmützenträger und im Durchschnitt drei Jahre alt. Sie zwingen ihre Eltern oder Großeltern, mit ihnen, wenn das mitfühlende Herz übervoll ist, an die Wipper zu gehen, um heimlich die dortigen Enten zu füttern, denen ihre herzensgute Zuneigung und Liebe gilt – wie gelegentlich am Nachmittag im Fernsehen den Zoogeschichten, in denen ihre großen Vorbilder, fürsorgliche Tierwärter, Elefanten und Mücken füttern, ebenso wie Eisbären, Schlangen und Mäuse. Die hilflosen Eltern sind daran zu erkennen, daß sie zutiefst verunsichert mit ihren Kindern das Haus verlassen, ängstlich umherschauen und sich vor den städtischen Kontrollgängen der Behörden fürchten, wenn sie an der videoüberwachungsfreien Wipperbrücke angelangt sind.



Nachfolgend aufgeführte Geschehen sind inzwischen verjährt und können strafrechtlich nicht mehr verfolgt werden. An einem Frühlingstag im vergangenen Jahr sah ich, auf dem Weg zum Kaufland, wie ein junger Vater gemeinsam mit seinem Söhnchen an der Wipperbrücke die seitliche Treppe herabstieg, um unter dem Brückenbogen gegen die Stadtobrigkeit zu handeln. Für kaum jemanden sichtbar, begann der Sohn sogleich, die kleine Entenschar mit gesammelten Brotresten zu versorgen – zum beidseitigen Vergnügen. Die Enten flatterten umher, als sei soeben für sie das Paradies auf Erden ausgerufen worden.



Der Vater verzichtete auf seine Aufsichtpflicht, setzte sich auf einen Betonvorsprung und nutzte die Zeit für das genüßliche Rauchen einer Zigarette; vermutlich auch als öffentlichen Protest gegen die allgemeine deutsche Gebots- und Verbotsmanie: Jeder Zigarettenzug ein Atemzug für mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Während der ungefähr Vierjährige beim Verteilen des Mitgebrachten auf Gleichbehandlung achtete und deshalb nach einer Weile wütend eine Ente ermahnte, nicht alles für sich zu beanspruchen: „Geh weg, die anderen wollen auch etwas! Geh doch endlich weg!“ Wozu die störrische Ente allerdings nicht bereit war. Soziale Gerechtigkeit stellte sich jedoch nach geraumer Zeit von selbst ein. Die eigensüchtige Hauptente zog sich gesättigt von selbst zurück. Es gab an diesem Tag Wohlstand für alle.



An einem anderen Tag, mitten im Winter, war ich an der Wipperbrücke zugegen, als ein kleines Mädchen sich an seine Mutter wandte, nachdem es mit Entsetzen bemerkt hatte, eine Ente habe nur ein Bein. Zutiefst verstört, bat das Kind seine Mutter, sich helfend um die Ente zu kümmern. Keine Erklärung half, das Mädchen gab nicht eher Ruhe, bis die Mutter einige Schritte nach vorn ging, in die Hände klatschte, so daß die Ente unvermittelt aus ihrem Wintertagtraum gerissen wurde. Verdutzt und erschrocken, zeigte sie auch das andere Bein und verließ den lauten Ort. Kehrte jedoch sofort wieder zurück, als das nunmehr glückliche Mädchen erleichtert mit der Fütterung begann. Mutter und Vater sicherten mit dem Rücken zum Geschehen den städtischen Tatort.



Beide Berichte zeigen, wie schwer es der Bürgermeister und seine Räte trotz vielerlei Bemühen haben, die Stadt zu regieren – feinfühlig und umsichtig, zum Wohle und zur Zufriedenheit aller.



Das bezeugt auch ein Abschlußgespräch mit drei Rebellen, die sich entschlossen nach wie vor gegen die Verordnung stellen. Alle Vornamen sind dem Autor bekannt, unterliegen jedoch dem Informantenschutz, den der Rechtsstaat garantiert. Rebellin A, vier Jahre: „Wir werden dem Bürgermeister ein Angebot unterbreiten, das er nicht ablehnen kann.“ Rebellin B, gleichfalls vier Jahre aus der Astrid-Lindgren-Kindergartengruppe „Ronja Räubertochter“: „Oder den Rat stürzen!“ Rebell C, mein Nachbar, im August vier, auf deutsch und russisch: „Wir schaffen das!“