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Freitag, 5. August 2016

Zum Tag des Bergmanns
mit Freddy Quinn auf der Lohbühne
 

Unvergessene Festtage im Lohpark: das Gedränge war stets groß, die Bankreihen vor der Lohbühne immer besetzt beim frohen Beisammensein am Ehrentag der Glückauf-Bergleute


VON HUBERT APPENRODT

In jedem Jahr freuten wir uns im Sommer auf den ersten Sonntag im Juli, auf den Tag des Bergmanns mit seiner Festlichkeit und seinen vielversprechenden Veranstaltungen im Lohpark. Bereits am Morgen zog die Bergmannskapelle mit einem kraftvollen „Glückauf“ durch die Straßen, um mit einem musikalischen Morgengruß die Bürger der Stadt auf den Ehrentag der Bergleute einzustimmen. Die ansehnlichen Uniformen und Ehrenkleider saßen tadellos, im Sonnenlicht glänzten die blankgeputzten Instrumente, und die Musiker spielten frisch auf, daß es allen eine Freude war - die Stubenfenster waren weit geöffnet, ebenso die Ohren und Herzen der Stadtbewohner.

Frohsinn und gute Laune setzten sich danach auf dem Festplatz im Lohpark fort, vom frühen Vormittag bis in den Abend hinein sorgten künstlerische Darbietungen auf der Lohbühne für allerlei Abwechslung. Das Lohorchester spielte, Volkstanzgruppen und Chöre der Stadt traten auf, und es gab auch Aufführungen der Konzert- und Gastspieldirektion zu bewundern, manchmal mit bekannten Künstlern, die wir vom Fernsehen her kannten. Die Organisatoren ließen sich alljährlich stets etwas Besonderes einfallen. Auch die Gaumenfreuden kamen nie zu kurz - an den Bratwurstrosten, in den Festzelten und an den Brauereiwagen mit Bierausschank, an den Verkaufsständen für Eis und Schokolade. Für uns Kinder war der Bergmannssonntag ein ebenso freudiger Tag wie für die Bergarbeiter und ihre Familien - und für die Bürger der Stadt, die alljährlich eingeladen waren, mit den Kaliwerkern ein frohes Beisammensein zu begehen.

Vorausgegangen waren zuvor Auszeichnungsveranstaltungen in verschiedenen Betriebsteilen und Brigaden und auf einer zentralen Festversammlung, bei denen Bergleute, aber auch Arbeiter des Kaliwerks und Angestellte mit beachtenswerten Leistungen als Aktivist oder als Verdienter Bergmann ausgezeichnet worden waren oder die Ernennung zum Meisterhauer erhalten hatten. Die Auszeichnungen waren Grund genug, die Freude darüber mit anderen zu teilen, vor allem zu begießen. Dafür gab es auf dem Festplatz ausreichend Gelegenheit.

Das Gedränge war stets groß, alle Bankreihen vor der Lohbühne immer besetzt. Die Bratwurstroste verbreiteten den ganzen Tag über ihren wohlriechenden Duft, die erwachsenen Männer tranken ihr Bier vom Riesenfaß in dickwandigen Gläsern, wozu verschiedene Brauereien des Landes festlich geschmückte Ausschankwagen nach Sondershausen entsandt hatten. Für uns Kinder gab es nach der Bratwurst mit Brötchen und viel Senf aus einem großen Topf neben dem Rost eine Faßbrause, später ein Eis und, wenn das Geld noch reichte, für den Heimweg eine kleine Tafel Schokolade. Hierfür hatten wir ein ausreichendes Taschengeld erhalten.

Kam die Dämmerstunde, hatten wir, wie den Eltern versprochen, nach Hause aufzubrechen. Das Bühnengeschehen war jedoch besonders an lauen, windstillen Sommerabenden noch weithin zu vernehmen. Zu Hause angekommen, lauschten wir deshalb oft noch eine Weile vor dem Haus, was aus dem Lohpark bis zu uns herüber drang. Fast immer spielte jetzt eine Kapelle zum Tanz auf, für die Neu- und Altverliebten vor der Lohbühne. Einmal gab es eine kurze Unterbrechung und dann die Ansage, daß jetzt ein junger Mann mit seiner Gitarre zu hören sei, ein musikalisches Talent aus Sondershausen, damals vielleicht um die neunzehn Jahre alt, der fast eine Stunde lang ein Solokonzert gab – vor allem mit beliebten Liedern von Freddy Quinn. Nach jedem Vortrag gab es Riesenbeifall, besonders für „Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong“ und „Junge, komm bald wieder“, und immer wieder laute Rufe nach Zugabe.

So erklang ein Lied nach dem anderen, über Liebe im Hafen und Matrosen auf hoher See, über Sehnsucht nach der Ferne, über Heimweh und Einsamkeit. Der wunderbare Gesang zur virtuos beherrschten Gitarre war sehr berührend und blieb vielen von uns unvergessen. Es war ein vortrefflicher Festtagsabschluß, über den in der Stadt noch lange gesprochen wurde.

Einige Tage später lenkte im Bergbad ein Klassenkamerad die Aufmerksamkeit auf einen jungen Mann, der auf einer Liegewiese seine Decke ausgebreitet hatte und leise auf seiner Gitarre spielte, mit leuchtenden Augen angehimmelt von einem jungen Mädchen neben ihm. „Das ist er, vom Bergmannstag.“ Und er fügte versonnen hinzu: „Gitarre müßte man spielen können – oder wenigstens Klavier.“

Freitag, 22. Juli 2016

DIE MÄRCHEN DER BRÜDER GRIMM IN UNSERER KINDHEIT

Eine Erinnerung an abendliche Märchenzeiten



MÄRCHENHAFTE LANDSCHAFT – WESTFÄLISCHE WASSERMÜHLE VON:
Andreas Achenbach (29. September 1815 in Kassel - 1. April 1910 in Düsseldorf)


VON HUBERT APPENRODT



Als wir Kinder waren und noch nicht zur Schule gingen, las uns unsere Mutter jeden Abend ein Märchen der Brüder Grimm vor, aus zwei dicken Märchenbüchern mit Illustrationen von Lea Grundig. Die Märchen seien sehr lehrreich. Jeden Abend, wir lagen bereits voll froher Erwartung in unseren Betten, freuten wir uns vor dem Einschlafen auf das Gutenachtmärchen. Später kam ein Buch mit wunderbaren Illustrationen von Ludwig Richter hinzu, in dem wir an manch grauem Regentag im Herbst oder bei tief stehender Sonne am winterliche Nachmittag oft blätterten oder später, als wir bereits zur Schule gingen, selbst lasen.



Die feinsinnigen, stimmungsvollen  Illustrationen trugen wesentlich zur Verzauberung in uns bei. Wir waren jedesmal dann ganz in uns selbst versunken - in prachtvollen Schlössern zu Hause, in prunkvollen Sälen und königlichen Gemächern, in tiefschwarzen Wäldern, hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen. Wenn wir vor unser Haus traten und zur Hainleite hinübersahen, jemand hatte uns darauf aufmerksam gemacht, konnten wie sieben Berge abzählen. Dort also weilte Schneewittchen, aß es unwissend den vergifteten Apfel, war es in einem gläsernen Sarg aufgebahrt, bis zu seiner glücklichen Erlösung. Oder wir bewunderten das tapfere Schneiderlein, wie es zwei Riesen hinters Licht führte und alle anderen Tapferkeitsproben gleichfalls einfallsreich und listig bestand. Wir hofften, nachdem wir das Märchen bereits kannten, mit dem Froschkönig und seinem getreuen Diener Heinrich auf Erlösung oder freuten uns mit den Bremer Stadtmusikanten, doch noch etwas besseres als den Tod gefunden zu haben, bevor am Abend die Nacht hereinbrach. Wir ließen uns am Wunschabend immer wieder das Märchen vom Schneewittchen vorlesen oder das von Dornröschen. Uns gefielen die Märchen von Rapunzel und Rotkäppchen, Brüderchen und Schwesterchen oder Allerleirauh, in der Weihnachtszeit besonders Hänsel und Gretel. Und bis heute kann ich mir keine anderen Illustrationen denken als jene von Lea Grundig und Ludwig Richter.



Später entdeckten wir, in welch schöner, wunderbarer, oft auch humorvoller Sprache die Märchen von Jakob und Wilhelm Grimm abgefaßt waren. Andererseits fiel uns erst viel später auf, welch Grausamkeit doch manches Märchen enthielt - was uns als Kinder damals weiter nicht störte, weil es immer Erlösung und ein gutes Ende gab, mit gerechter Strafe für das Böse und für die anderen, denen aus großer Not geholfen worden war, das Versprechen, von nun an ein langes, sorgenfreies Leben vor sich zu haben. Wie im richtigen Leben, wenn man das eine oder andere großzügig übersieht und nicht weiter beachtet – so daß auch wir nach einiger Zeit mit Jakob und Wilhelm Grimm sagen können: „Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie (und wir) lebten in lauter Freude zusammen.“



***

DIE ERSTEN FÜNFZEHN MÄRCHEN DER BRÜDER GRIMM



In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, daß die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien. / Eine Katze hatte (indessen) Bekanntschaft mit einer Maus gemacht und ihr soviel von der großen Liebe und Freundschaft vorgesagt, die sie zu ihr trüge, daß die Maus endlich einwilligte, mit ihr zusammen in einem Haus zu wohnen und gemeinschaftliche Wirtschaft zu führen. / Sie waren aber so arm, daß sie nicht mehr das tägliche Brot hatten und nicht wußten, was sie (einander) sollten zu essen geben. / Bald danach kam der Küster zum Besuch ins Haus, da klagte ihm der Vater seine Not und erzählte, wie sein jüngster Sohn in allen Dingen so schlecht beschlagen wäre, er wüßte nichts und lernte nichts.



(Und) Es dauerte nicht lange, so klopfte jemand an die Haustür und rief 'macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht.' / Da sah der getreue Johannes, daß es nicht mehr zu ändern war, und suchte mit schwerem Herzen und vielem Seufzen aus dem großen Bund den Schlüssel heraus. / Da ward der Fleischer zornig, griff nach einem Besenstiel und jagte ihn hinaus. / Da nahm er die Geige vom Rücken und fiedelte eins, daß es durch die Bäume schallte. / Die Mutter aber saß nun den ganzen Tag und trauerte, so daß der kleinste Sohn, der immer bei ihr war, und den sie nach der Bibel Benjamin nannte, zu ihr sprach ‚liebe Mutter, warum bist du so traurig?’ / Da gingen sie zusammen fort auf den Berg, und weil es ein heller Tag war, blieben sie bis zum Abend.



Es trug sich aber zu, daß der König des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. / Da hörte er einen Gesang, der war so lieblich, daß er still hielt und horchte. / Nun war der König in großer Freude, er hielt aber die Königin in einer Kammer verborgen bis auf den Sonntag, wo das Kind getauft werden sollte. / Da erschrak der Königssohn und sprach ‚so soll mir nun und nimmermehr meine schöne Braut ein Spinnrad anrühren.’ / Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen.





Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich

Katze und Maus in Gesellschaft

Marienkind

Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

Der Wolf und die sieben jungen Geißlein

Der treue Johannes

Der gute Handel

Der wunderliche Spielmann

Die zwölf Brüder

Das Lumpengesindel

Brüderchen und Schwesterchen

Rapunzel

Die drei Männlein im Walde

Die drei Spinnerinnen

Hänsel und Gretel


MÄRCHENHAFTE LANDSCHAFT Gemälde von Andreas Achenbach (29. September 1815 in Kassel - 1. April 1910 in Düsseldorf)



Langer Feriensommer in Sondershausen
mit Pücklereis, Dreieckbadehose und Klatschmohn
 

Kindheitserinnerungen an acht Ferienwochen, an frohe Tage im Kinderferienlager, bei den örtlichen Ferienspielen, im Schwimmlager oder unterwegs mit dem Fahrrad



VON HUBERT APPENRODT

Sommer in Sondershausen war, wenn das Bergbad öffnete und hierfür im Sportwarengeschäft in der heutigen Güntherstraße reichlich Dreieckbadehosen auslagen - in drei Größen und Farben, in grün, weinrot und blau. Der Sommer war gekommen, wenn zur Hardt hoch der weiße Holunder blühte und die Amseln im Schloßpark ihren Nachwuchs zu ersten Flugversuchen verlockten - wenn es im Cafe Pille wieder das wunderbare Pücklereis gab, eine Köstlichkeit aus Schoko-, Vanille- und Himbeereis zwischen zwei Waffeln. Wir Kinder liebten es. Vor dem Cafe Pille stand auf einer Tafel mit Kreide geschrieben: Heute Pücklereis!

Der herbeigesehnte Feriensommer begann nicht nach dem Kalender, er nahm seinen Anfang in der ersten Juliwoche nach dem Empfang der Zeugnisse. Danach freuten wir uns über acht lange schulfreie Wochen. Einige fuhren ins Kinderferienlager des Betriebes, in denen die Eltern arbeiteten, andere nahmen an örtlichen Ferienspielen teil oder am Schwimmlager, betreut von den Sportlehrern Harry Eisenkrätzer und Herbert Reinhold von der Käthe-Kollwitz-Schule.

Wer mit ins Kinderferienlager fahren wollte, erhielt einen Laufzettel für eine ärztliche Untersuchung, danach ein Merkblatt, was ins Ferienlager mitzunehmen war: ein Kulturbeutel mit den üblichen Waschutensilien: Seife, Zahnpasta und –bürste, Handtücher, ein Becher. Ein vollständiges Eßbesteck mit Geschirrtuch gehörte ebenso dazu wie leichte und warme Kleidung für heiße Sonnen- oder kühle Ferientage oder Regenwetter. Einmal fuhren wir für einige Wochen ins Selketal im Harz. In verschiedenen Gebäuden der Selkemühle untergebracht, waren wir von dunklen Märchenwäldern mit mittelalterlicher Burg umgeben, zu der wir einmal wanderten. Dort bewunderten wir den prunkvollen Festsaal und Ritterrüstungen und die geheimnisvollen dunklen Kellergewölbe. Von den Burgfenstern konnten wir von oben herab auf eine wunderbare waldreiche Landschaft sehen. Unvergessen blieb auch eine Nachtwanderung bei Vollmond. Zum Berg- und Abschlußfest stellten wir kleine Programme zusammen mit Volksliedern, Tänzen und einigen Gedichten. Unseren Eltern schrieben wir Ansichtskarten, auf denen wir Unternehmensfreude, gutes Essen und Sonnenschein bestätigten.

Wieder zu Hause, nach wehmutsvollem Abschied im Ferienlager, fuhren wir manchmal zu Verwandten aufs Land oder durchstreiften mit Klassenkameraden die stadtnahe Natur, am Nachmittag tobten wir uns im Bergbad aus. Oder wir fuhren mit dem Fahrrad zum Kyffhäuser oder zur Barbarossahöhle.

Sommer in Sondershausen - wenn man ein wenig träumend die Augen schloß, konnte man ihn sehen, wie er mit dem Aufgehen der Sonne die morgenkühlen Wälder der Wind- und Hainleite durchstreifte. Wenig später saß er auf der Schloßmauer und ließ in der Mittagshitze über der Stadt den feinen Sonnenstaub tanzen. Am Nachmittag durchwehte er die Weizen- und Roggenfelder, an deren Rändern im Sonnenlicht die Blüten des Klatschmohn hellrot aufleuchteten.

In den Gärten reiften die Früchte für feine Kuchen: Stachelbeeren, rote und schwarze Johannisbeeren, nahe am Boden die Erdbeeren und der wunderbare Rhabarber, an den Obstbäumen Sauer- und Süßkirschen, grüne und rotwangige Äpfel und saftige Birnen.

Die Natur ist voller Abenteuer. Auf einer ungemähten Wiese am kleinen Parkteich erfreuten sich Schmetterlinge und Insekten an ihrem unberührten Lebensraum. Die Grashüpfer waren kaum zu sichten, aber weithin zu hören. Die Maulwürfe erweiterten ihre unterirdischen Gänge, gelegentlich schoben sie Erdreich nach oben. Marienkäfer und Ameisen störte das nicht, der Laubfrosch sprang zur Seite, wenn sich die Erde anhob. Über dem Parkteich schwirrten und sirrten die Libellen, das Schwanenpaar zeigte dem Nachwuchs, wie man nach Nahrung am Teichgrund sucht.

Und noch einmal kam Wehmut auf, die letzte Ferienwoche war angebrochen. Im Schreibwarengeschäft von Emmi Weide am Markt waren die neuen Schulbücher eingetroffen. Dazu kauften wir Schreib- und Rechenhefte, einen Zeichenblock für den Unterricht bei Herrn Frenzel, ein Notenheft für die Musikstunde bei Herrn Köhler. Im Bürobedarf Tetzlaff holte ich meinen Füllfederhalter ab, der von Herrn Tetzlaff sorgfältig gereinigt und mit einer neuen Feder versehen worden war.

Die Felder waren abgeerntet, im Park schwiegen die Grillen, und im Cafe Pille gab es kein Pücklereis mehr. Der lange, lange Sommer war vorüber.




Sonnenheller Sommertag am kleinen Schwanenteich im schattenreichen Schloßpark mit früher ungemähter Sommerwiese hinter dem Parkhäuschen  
Foto: Hubert Appenrodt

Sonntag, 15. Mai 2016


Untergehende Sonne an einem stillen Abend im Kyffhäuserkreis, nach einem langen Frühlingstag, besinnliche Landschaft bei Bad Frankenhausen - Foto: Tobias Schindler


Vor langer Zeit an einem Frühlingstag in Sondershausen


In der alten Schäferei treffen die Schwalben aus dem Süden ein, die Schwanenpaare ziehen sich im Park zum Brüten zurück, Dirigent Wiesenhütter probt mit dem Lohorchester Vivaldis Jahreszeiten
 



VON HUBERT APPENRODT



Auf einem kahlen Ast, der zu einem Kastanienbaum im Schloßpark gehört, taut der letzte Schnee vom Winter, der nun vergangen ist. Nur hier und da verblieb ein wenig Schnee. Dicke Tropfen fallen im hellen Frühlingslicht auf den Wegesrand und versetzen für einen Augenblick ein neugieriges Eichhörnchen in Erstaunen – an einem sonnigen Tag, als es die Kleine Wipper noch gab und die Mühle am Parkeingang, nahe der kleinen und großen Wipperbrücke.


In den Stallungen der alten Schäferei Dötzel am Schwarzen Bären sind aus dem fernen Afrika die ersten Rauchschwalben eingetroffen, in ihre alten Kugelnester, die sogleich ausgebessert werden, mit Speichel, Lehm- und Erdklümpchen, versehen mit Heu- und Strohhalmen. Später werden aus dem Süden Mehlschwalben folgen, die mit Vorliebe an den Außenwänden der Schafställe ihre Nester anbringen. Zu den Vorboten des Frühlings zählen auch die Schneeglöckchen. In einem viel bewunderten Garten nahe dem Jugendklubhaus blühen tausend Schneeglöckchen, von Februar bis Ende März, in jedem Frühjahr solange es den Garten gibt.

Als Frühlingsvorboten gelten die geselligen Stare und an den städtischen Gewässern die zierlichen Bachstelzen. Mauersegler an den Türmen der Stadt und Nachtigallen im Park werden erst Ende April erwartet. In den Wäldern der Wind- und Hainleite erwachen Waldameisen aus ihrer Winterstarre, geweckt von der Frühsonne, deren Strahlen ihre angelegten Wohn- und Lebenshügel erwärmen. Die Ameisen durcheilen sogleich die Gänge nach oben ins Freie, um sich von der Sonne wärmen zu lassen. Danach geben sie die Wärme in den Gängen und Bruträumen an den großen Ameisenhügel ab.

Die Sonne erfreut Mensch und Natur. Und wer eben noch krank war, schöpft am hellen Frühlingstag frischen Lebensmut und neue Zuversicht. Am Erwachen der Natur im Park und in den Anlagen, in den Vorgärten und in den Wäldern haben die kleinen und großen Stadtbürger gleichermaßen ihre Freude. „Nun will der Lenz uns grüßen“ singen voller Glücksgefühl in einem Raum neben der Aula der Käthe-Kollwitz-Schule Mädchen und Jungen einer dritten Klasse. Frau Rosenstiel begleitet sie dazu auf dem Akkordeon. Die Schüler haben sich zum Singen erhoben und können beim Gesang zum Fenster hin über die Dächer von Sondershausen hinwegschauen, im Hintergrund sind die flach ansteigenden Felder der Windleite zu sehen, die bald für die Frühjahrsaussaat beackert werden.

Am Haus der Kunst stellt zu dieser Zeit Herr Gertler aus dem Schersental sein Fahrrad ab und eilt mit seiner Violine zur Orchesterprobe für Vivaldis Jahreszeiten, dessen Frühlingssatz am Abend in einem Lohkonzert erklingen soll. Dirigent Gerhart Wiesenhütter hebt den Taktstock und gibt das Zeichen zum Einsatz, die Musiker beginnen gut vorbereitet mit virtuosem Spiel. Die feinsinnige Musik aus dem Barock erwärmt auch ihre Herzen.

In der Hospitalstraße schaltet Schuldirektor Löhrius das Radio an und sagt: „Heute wollen wir einmal nicht traurig sein.“ Er dreht sich lächelnd zu seiner Frau um und fragt leise: „Darf ich bitten?“ Und beide tanzen versonnen zum Donauwalzer in ihrem Wohnzimmer um den großen Stubentisch herum. Wie in alten unbeschwerten Tagen, von denen sie glaubten, sie seien für immer vergangen, weil sie vor Jahren ihren kleinen Sohn verloren. Als der Walzer verklungen ist, sagt Frau Löhrius: „Vielleicht hat uns unser lieber Junge soeben zugesehen.“ –„Und sich mit uns gefreut.“

Im Kräuter- und Gemüsegarten indessen, den es damals am Krankenhaus noch gab, unterbricht zur gleichen Zeit Herr Aschoff das Herrichten eines Frühjahrsbeets und greift mit der Hand ins lockere Erdreich. Ich komme gerade aus der Schule. Er ruft mich freundlich zu sich und hält mir seine flache Hand mit der Gartenerde entgegen: „Darin ist soviel Leben, sichtbares und unsichtbares, mehr als es Menschen auf dieser Erde gibt.“ – „Ja“, sage ich, „darüber haben wir heute im Biologieunterricht gesprochen. Bei Herrn Henze.“ - „Alles Leben erwacht neu“, sagt Herr Aschoff, „dafür richte ich das Beet her.“

Zu Hause schlage ich die Zeitung auf. Auf der Lokalseite lese ich eine kleine Notiz zum Frühlingsanfang: Am ersten Frühlingstag schien die Sonne. Im Schloßpark haben sich die Schwanenpaare zum Brüten zurückgezogen, darunter auch Schwan Hans und seine treue Begleiterin. Ein Eichhörnchen suchte und fand eine Nuß aus seinem Wintervorrat und verzog sich rasch in einem Baumwipfel.

 

Samstag, 14. Mai 2016

Heraus zum ersten Mai in Sondershausen

Heraus zum ersten Mai in Sondershausen!

Eine Erinnerung an Vorwoche und Vorabend zum ersten Mai, als wir noch zur Schule gingen


VON HUBERT APPENRODT



In der Vorwoche zum ersten Mai trafen wir uns am Nachmittag in der Schule, um auf dem Pausenhof die Transparente zu gestalten, die die einzelnen Klassen während der Maidemonstration in unserer kleinen ehemaligen Residenzstadt mitführen sollten. Dafür hatte unser Zeichenlehrer und Kunsterzieher Helmut Frenzel einige Schüler angesprochen. Aus dem Abstellraum neben dem Fahrradschuppen holten wir die Transparente vom vergangenen Jahr hervor, die irgendwann einmal im Werkunterricht angefertigt worden waren. Wir entfernten die alte Beschriftung, versahen den Rahmen mit einer neuen Bespannung und gingen mit Pinsel und Farbe frisch ans neue Losungswerk. Mißlang eine Beschriftung, weil ein Wort zu lang war, am Ende der Platz nicht reichte, halfen eine neue Bespannung und eine genauere Vorskizze weiter. Die Losungen ergaben sich aus dem Schul- und Pionierleben, waren vorher besprochen und ausgewählt worden: „Wir Kinder wollen keinen Krieg! Wir lernen für den Frieden!“ oder: „Gute Noten und Zeugnisse – unser Beitrag zum Aufbau des Sozialismus!“, „Wir lernen für eine bessere Zukunft!“.



Einem Aufruf der Pionierorganisation folgend, brachten in einem Jahr einige Schüler kleine Leiterwagen in der Maivorwoche mit zur Schule, die mit der Hand gezogen werden konnten, und wir fertigten einen Pionierexpress – zu Ehren irgendeines Parteitags oder Jahrestags der DDR. Mit Pappe statteten wir den ersten Wagen mit Tender, Führerstand und gemütlichem Lokführer aus und einer schwebenden dicken Rauwolke über dem Schornstein der Lokomotive. Die drei Wagen hinter ihr erhielten Abteilfenster, aus denen glückliche Mädchen und freundliche Jungen aus aller Welt schauten, in Freundschaft verbunden: Junge Pioniere und Chinesen, Afrikaner und sowjetischen Pioniere. Weil der Express die erste Zugfahrt bestens bestand, zwei kräftige Jungen zogen mit ihm eine Runde auf dem großen Pausenhof, wurde er am nächsten Tag mitgeführt. An der Seite liefen Junge Pioniere in blütenweißem Pionierhemd mit Fähnchen oder mit Friedenstauben auf einer Transparentstange, die mit bunten Bändern und dem Wort Frieden in vielen Sprachen versehen waren: Pax, Mir, Peace.



Der Fackelzug am Vorabend



War der Vortag zum ersten Mai gekommen, gab es am Abend einen Fackelzug durch die Straßen unserer Stadt. Dazu trafen wir uns zur Abenddämmerung auf dem großen Pausenhof unserer Käthe-Kollwitz-Schule, die Jungen Pioniere und FDJler und unsere Lehrer. Die Mitglieder des Fanfarenzuges in weißem Pionier- oder blauem FDJ-Hemd brachten ihre Instrumente mit – die schweren und leichten Trommeln und natürlich die Fanfaren. Die Lehrer verteilten Fackeln an die Außenläufer, die, bevor wir loszogen, an einer Hauptfackel entzündet wurden. Danach nahmen wir wieder hinter dem Fanfarenzug klassenweise Aufstellung, zuerst die Jungpioniere, hinter ihnen in späteren Jahren die Thälmannpioniere. Den Abschluß bildeten die Mädchen und Jungen der oberen Klassen im FDJ-Hemd. Die Mädchen kicherten fortwährend, die Jungen strahlten Erhabenheit aus, gaben ein wenig an und freuten sich auf das Herumstromern mit den Mädchen nach Ende des Fackelzugs. Einige vorbildliche artige großen Kinder gingen sofort nach Hause – Papa und Mama hatten es so angeordnet



Wenn Herbert Bartsch, der Pionierleiter unserer Schule und Leiter des Fanfarenzuges, den Tambourstab hob und das Zeichen zum Beginn gab, trat Stille ein, und wir marschierten los. Zum Schultor hinaus auf die Alexander-Puschkin-Promenade, die Jechastraße hinunter, um dann zum Sportplatz abzubiegen oder in späteren Jahren auf die lange Hauptstraße zu gelangen. An den Seiten die Lehrer und einige Eltern, die darauf achteten, daß nichts passierte, das Frozzeln und Herumalbern sich in Grenzen hielt.



In den Anfangsjahren, wie bereits erwähnt, endete unser Fackelzug auf dem Sportplatz mit einer Abschlußrede unseres Freundschaftspionierleiters zur Bedeutung des 1. Mais für uns Pioniere und FDJ-Mitglieder. So erinnert sich aus unserer Klasse meine Mitschülerin Anni. Ich erinnere mich, daß er auch einmal in der der Lohstraße endete, in der Nähe der errichteten Maitribüne, die bis zum anderen Morgen von freiwilligen Helfern der Volkspolizei bewacht wurde. Es hätte ja jemand eine Losung feinsinnig übermalen können, mit Datumsangabe: 17. Juni 1953. In der Lohstraße war ein kleines Feuer entfacht worden für die Fackelreste, überwacht von freiwilligen Feuerwehrleuten der Stadt, die dafür sorgten, daß weder Flammen noch Funkenflug einen Schaden anrichten konnten.



Nach Auflösung des Fackelzuges gingen die Kleinen mit ihren Eltern nach Hause. Wir Größeren stromerten vor dem Heimweg in kleinen Gruppen neugierig noch durch die Stadt, die Mutigen auch durch den unbeleuchteten Schloßpark. War es am Vorabend bereits sommerwarm, waren in der Stadt Türen und Fenster der Gaststätten weit geöffnet. Und der trunkene Lärm drang bis auf die Straße und hielt bis weit nach Mitternacht an. Verdiente Werktätige des Volkes hatten auf feierlichen Betriebsversammlungen zum ersten Mai, dem „Internationaler Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus“, Auszeichnungen und Prämien erhalten. Mitunter führte das in fortgeschrittener Gaststättenstunde zu neidvollen Bemerkungen: „Warum wurde der eigentlich ausgezeichnet? Weil er in der Partei ist?“ – „Laß ihn doch!“ War der Betroffene in Sichtweite, konnte es auch heißen. „Komm, gib einen aus – und alles ist gut!“



Anni aus meiner Klasse erinnert sich:
Der Abend vor dem 1. Mai  war ganz geheimnisvoll. Wir fühlten uns schon wie die „Großen“. Hinter dem Fanfarenzug marschierten die Jungen Pioniere, danach kamen die FDJ-Mitglieder. Wir sind zum Sportplatz marschiert, diesen buckeligen Weg zum Jugendklubhaus hinunter. An soviel kann ich mich auch nicht erinnern. Ob wir die letzte Schule dann waren? Ich selber war eine Zeitlang im Fanfarenzug ganz stolz darauf, als Tieftrommler mitzuwirken. Die Abschlußrede auf dem Sportplatz hielt Herrn Bartsch, unser Freundschaftspionierleiter an der Schule, bevor wir die Fackeln, die inzwischen fast abgebrannt waren, auftürmten – „Für Frieden und Sozialismus, seid bereit!“ -  „Immer bereit!“  Es war ein Friedensfeuer.

Am 1. Mai war unser Marschroute: Von der Käthe-Kollwitz-Schule auf die Alexander-Puschkin-Promenade zum Stadtcafe. Hier kamen die Schüler und Lehrer der Geschwister-Scholl-Schule dazu. Dann ging es zum  heutigen Busbahnhof, die Straße zum Gericht herauf, dann rechts herunter in Richtung Lohstraße. Auf Höhe der alten Ladenstraße war die große Maitribüne errichtet worden. An ihr vorbei marschierten wir in Richtung Post und alter Feuerwehr zum Marktplatz. Dort löste sich der Maiumzug auf, und das bunte Treiben begann.

Meine  Füße taten weh von den neuen weißen Igelittschuhen. Obwohl ich die hübschen weißen Kniestrümpfe trug. Daran kann ich mich sehr gut erinnern. Schuhe nannte sich das, die Dinger kamen wohl auch nur 10 Mark. Aber mehr war bei Mutti damals, in anderen Zeiten als heute, nicht in der Familienkasse.
 



Ärzte, Schwestern und Angestellte des Kreiskrankenhauses Sondershausen auf einer Demonstration zum 1. Mai in der oberen Leninallee - mit Hubert Johann Otto Appenrodt, seinem Bruder Klaus, ihrem Vater, mit Regina Jurk und ihrem Vater, ebenfalls Krankenpfleger


In blütenweißem Pionierhemd an der Maitribüne vorbei


Aus vergangener Zeit: An einem 1. Mai in unserer Kleinstadt – eine Erinnerung



VON HUBERT APPENRODT

In den Morgenstunden war zum ersten Mai immer die Werkskapelle des Kaliwerks „Glückauf“ zu hören, die durch die Straßen unserer kleinen Stadt zog, um am festlichen Ehrentag der Werktätigen mit einem musikalischen Weckruf aufzuwarten. So erklang das beliebte Glückauf-Lied in vielen Straßen immer wieder neu neben bekannten Märschen und den klassischen Arbeiterliedern. Fiel der erste Mai auf einen warmen Frühlingstag mit viel Sonne am Morgen, fiel das Aufstehen nicht schwer, öffneten die Bürger weit die Fenster, und der Frühlingsmorgen hielt auch in unsere Wohnzimmer Einzug. In den Fensterscheiben brach sich das helle Frühlingslicht, und in den Strahlen der Sonne tanzten in der Stube die Sonnenstäubchen zu den Trommel-, Trompeten- und Posaunenklängen des vorbeiziehenden Blasorchesters.

Auf einem Stuhl lagen alle Sachen bereit, die frisch gebügelten Hose für jeden von uns drei Brüdern, die blütenweißen Pionierhemden mit gestärktem Kragen, die weißen Kniestrümpfe und geputzten Schuhe. Zum gemeinsamen Frühstück wurde das große Radio eingeschaltet. Am ersten Mai sendete Radio DDR 1 in jedem Jahr bis zum Beginn der Maifeierlichkeiten, die im ganzen Land Punkt zehn Uhr begannen, Volkslieder, darunter vor allem Wanderlieder und solche Lieder, die von Ermunterung, Aufbruch und Zuversicht kündeten: „Es zogen auf sonnigen Wegen“, „Der Mai ist gekommen“ und „Im Frühtau zu Berge“, dazwischen Pionier- und Aufbaulieder: „Die Heimat hat sich schön gemacht“, Brechts Aufbauwalzer oder das bekannte „Bau auf!“-Lied, beliebt war besonders die erste Chorfassung, die nach dem Krieg für den Rundfunk aufgenommen worden war und oft gesendet wurde.
Um zehn Uhr begann dann im Radio die Übertragung der Maidemonstration in der Karl-Marx-Allee in Ostberlin - mit dem zehnten Glockenschlag vom Roten Rathaus, der Begrüßung des Generalsekretärs der SED und der Rede des Vorsitzenden des Gewerkschaftsbundes. Lange Jahre war das Harry Tisch, der von Schöpfertum und Initiative, Planüberfüllung und dem glücklichen Leben im Sozialismus sprach, falls wir „heute so arbeiten, wie wir morgen leben möchten“. Manche fragten spöttisch, warum die Ergebnisse der Arbeit von heute für morgen zwischengelagert werden müssen. Nach der Maidemonstration in Berlin wurden im Radio den ganzen Nachmittag Arbeiter- und Kampflieder gespielt.

Indessen hatten wir uns gegen neun Uhr in der Schule eingefunden, und nun begann das große Nervenspiel, wie entgehe ich geschickt, sollte es mich treffen, der Aufforderung, ein Transparent oder eine Fahne zu tragen. In den Betrieben sah es nicht anders aus. Die Lehrer, es war in jedem Jahr so, waren stets nahe daran, laut und deutlich zu verzweifeln. Sie kannten alle Ausreden: „Ich habe mich gestern beim Sport verletzt, eine Zerrung in beiden Armen.“ Oder: „Ich darf vom Arzt aus nicht!“ Woraufhin dann bald zu hören war: „Jetzt ist Schluß! Ich will nichts mehr hören." - "Aber wenn es nun einmal der Arzt gesagt hat!" - "Schluß! Aus, du trägst jetzt dieses Transparent. Keine Diskussion mehr, du diese Fahne!“ An wem der Transparentkelch vorüberging, führte während der Demonstration lediglich ein kleines Fähnchen mit. Wobei die Staatsfahnen der sozialistischen Bruderländer unbeliebt waren, ebenso wie die Fahnen der DDR-Massenorganisationen, eigentlich waren alle Fahnen unbeliebt.

Wenn die Vororganisation abgeschlossen war, alle Transparente und Fahnen verteilt waren, die Lehrer endlich aufatmen konnten, ging es los. Mit den ersten Klängen vom Fanfarenzug marschierten wir wieder klassenweise zum großen Schultor hinaus. Dahinter die Jungen Pioniere, den Abschluß bildeten die FDJ-Mitglieder. Die Lehrer bildeten einen eigenen Marschblock. Einige liefen an den Seiten mit und achteten darauf, daß eine der Demonstration angemessene Ordnung auch am ersten Mai eingehalten wurde.
Dennoch kam es immer wieder, gleichsam wie im übrigen geselligen Leben des Sozialismus, zu Stillstand und Wartezeiten. Dann ging ein leichtes Stöhnen durch die Reihen: „Schon wieder!“ Die Transparentträger, die noch immer keinen Klassenkameraden hatten überzeugen können, das Transparent zu übernehmen, stützten sich auf ihre Losungen („Meine Liebe, meine Tat meiner Heimat DDR!“ oder "Wir lernen für den Weltfrieden!") – und warteten mit uns Fähnchenträgern auf das erlösende Weitermarschieren. War schließlich die Haupttribüne erreicht, winkten wir mit unseren Fähnchen den führenden Stadtgenossen zu und freuten uns nach Auflösung des Demonstrationszuges auf einen neugierigen Spaziergang durch die Stadt. Die Fahnen- und Transparentträger mußten noch zur Schule aufbrechen, um im Gebäude die Transparente und Fahnen abzulegen. Danach waren auch sie erlöst und frei für alle Maivergnügen.

Ohne Bratwurst mit Brötchen und viel Senf aus dem großen irdenen Senftopf keine Maifeier. Überall waren Bratwurststände aufgebaut, glühte die Holzkohle, klingelte das Geld in der Kasse, gab es an einem anderen Stand Süßigkeiten und Faßbrause. Beliebt waren auch die Gulaschkanonen der NVA, der GST oder Kampftruppen der Arbeiterklasse im Lustgarten, auf dem Sportplatz oder vor dem Jugendklubhaus. Traditionell gab es hier von freundlichen jungen Männern in Uniform, Kochmütze und –schürze zum kleinen Preis eine wunderbare Erbsensuppe - mit viel Speck, den wir uns nie genauer betrachteten. Die Suppe schmeckte herrlich. Die Werktätigen schickten ihre Kinder nach Hause zu den Müttern oder gaben ihnen Geld für ein Maivergnügen und begannen nach der Erbsensuppe Bier und Schnäpse zu trinken. Oder die ganze Familie wanderte zur Stillen Liebe oder zum Possen hinauf. In späteren Jahren wurden Familienausflüge auch oft und gern mit dem Trabant unternommen.

Alle Gaststätten hatten geöffnet, es wurde an diesem Tag viel getrunken, erzählt und gewankt. Einige Erbauer des Sozialismus vertranken ihre vor den Ehefrauen verheimlichten Prämien oder das Taschengeld, das die Angetrauten ihnen großzügig gewährt hatten. Zum Abschluß gab es am Maiabend ein Feuerwerk mit zahlreichen zum Himmel zischenden Raketen, krachendem Lärm und großem Sternenregen über der Stadt - und vielen Ahs und Ohs, wenn das Feuerwerk die Straßen und Plätze hell erleuchtete. Zahlreiche Bürger bekamen allerdings nach etlichen Bieren und Schnäpsen vom Sternenregen nicht mehr viel mit.

Anderntags begann wieder der graue Arbeitsalltag. In den Betrieben und öffentlichen Einrichtungen, in den städtischen Ämtern und Räten und in der SED-Kreisleitung verwalteten die Verantwortlichen wieder notgedrungen den allgemeinen Mangel, wie er im Sozialismus unausweichlich ist. Die Arbeiter und Bauern indessen gaben sich Mühe, ihre Arbeit so gut es ging zu verrichten, warteten gelegentlich auf Anweisungen oder lobten den erzwungenen Müßiggang, wenn das Arbeitsmaterial ausblieb, und glaubten nicht, daß ihr Arbeitsplatz gleichzeitig ein Kampfplatz für den Frieden sei, wie es eine Mailosung ihnen versuchte nahezulegen.

Im März 1989 gab das Zentralkomitee der SED, ganzseitig veröffentlich auf Seite 1 des SED-Zentralorgans Neues Deutschland, zum letzten Male die Losungen zum ersten Mai heraus. Eine lautete: „40 Jahre DDR - Alles mit dem Volk, alles durch das Volk, alles für das Volk!“ Eine andere: „Weiter voran unter dem Banner von Marx, Engels und Lenin!“ Nur wenige Monate später entschied sich eine Mehrheit im Volk eindrucksvoll dafür, weder unter einem Banner noch mit Marx, Engels und Lenin weiter voranzugehen.




Dank an Dorothea Kiefer für ergänzende Hinweise beim gemeinsamen Erinnern am Telefon. Dank auch an Antje Schulz für den Wandertip von einst zum Possen mit der ganzen Familie am 1. Mai.
 

Erwartungsfrohe Ente an der Wipperbrücke - gern und heimlich gefüttert von Kindern und ihren nachsichtigen Eltern.
Foto: Hubert Appenrodt

Junge Rebellen und hungrige Enten

 

Eine Sondershäuser Alltagsgeschichte über milchgesichtige junge Rebellen an der Wipperbrücke



VON HUBERT APPENRODT



Der Winter ist still und nahezu unauffällig vergangen, und mit ihm verging gleichsam unbemerkt jener Februartag, an dem der Rat der Stadt vor sechs Jahren noch einmal in der „Sonderhäuser Allgemeinen“ seine Bürger ermahnte, trotz vielen Schnees, schweren Eisgangs und frostiger Tage keinesfalls an den Gewässern wildlebende Enten und Schwäne zu füttern – bei Androhung eines Ordnungsgeldes. Seither gibt es mit der städtischen Notverordnung zum durchaus sinnvollen Erhalt der Uferbefestigungen gegen Wühlarbeiten kleiner Nager jedoch auch die Auflehnung, eine Rebellion ehemals gesetzestreuer Bürger – zum Leidwesen des Bürgermeisters und seiner Stadträte.



Die milchgesichtigen Rebellen sind nahezu allesamt bekennende Ringelmützenträger und im Durchschnitt drei Jahre alt. Sie zwingen ihre Eltern oder Großeltern, mit ihnen, wenn das mitfühlende Herz übervoll ist, an die Wipper zu gehen, um heimlich die dortigen Enten zu füttern, denen ihre herzensgute Zuneigung und Liebe gilt – wie gelegentlich am Nachmittag im Fernsehen den Zoogeschichten, in denen ihre großen Vorbilder, fürsorgliche Tierwärter, Elefanten und Mücken füttern, ebenso wie Eisbären, Schlangen und Mäuse. Die hilflosen Eltern sind daran zu erkennen, daß sie zutiefst verunsichert mit ihren Kindern das Haus verlassen, ängstlich umherschauen und sich vor den städtischen Kontrollgängen der Behörden fürchten, wenn sie an der videoüberwachungsfreien Wipperbrücke angelangt sind.



Nachfolgend aufgeführte Geschehen sind inzwischen verjährt und können strafrechtlich nicht mehr verfolgt werden. An einem Frühlingstag im vergangenen Jahr sah ich, auf dem Weg zum Kaufland, wie ein junger Vater gemeinsam mit seinem Söhnchen an der Wipperbrücke die seitliche Treppe herabstieg, um unter dem Brückenbogen gegen die Stadtobrigkeit zu handeln. Für kaum jemanden sichtbar, begann der Sohn sogleich, die kleine Entenschar mit gesammelten Brotresten zu versorgen – zum beidseitigen Vergnügen. Die Enten flatterten umher, als sei soeben für sie das Paradies auf Erden ausgerufen worden.



Der Vater verzichtete auf seine Aufsichtpflicht, setzte sich auf einen Betonvorsprung und nutzte die Zeit für das genüßliche Rauchen einer Zigarette; vermutlich auch als öffentlichen Protest gegen die allgemeine deutsche Gebots- und Verbotsmanie: Jeder Zigarettenzug ein Atemzug für mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Während der ungefähr Vierjährige beim Verteilen des Mitgebrachten auf Gleichbehandlung achtete und deshalb nach einer Weile wütend eine Ente ermahnte, nicht alles für sich zu beanspruchen: „Geh weg, die anderen wollen auch etwas! Geh doch endlich weg!“ Wozu die störrische Ente allerdings nicht bereit war. Soziale Gerechtigkeit stellte sich jedoch nach geraumer Zeit von selbst ein. Die eigensüchtige Hauptente zog sich gesättigt von selbst zurück. Es gab an diesem Tag Wohlstand für alle.



An einem anderen Tag, mitten im Winter, war ich an der Wipperbrücke zugegen, als ein kleines Mädchen sich an seine Mutter wandte, nachdem es mit Entsetzen bemerkt hatte, eine Ente habe nur ein Bein. Zutiefst verstört, bat das Kind seine Mutter, sich helfend um die Ente zu kümmern. Keine Erklärung half, das Mädchen gab nicht eher Ruhe, bis die Mutter einige Schritte nach vorn ging, in die Hände klatschte, so daß die Ente unvermittelt aus ihrem Wintertagtraum gerissen wurde. Verdutzt und erschrocken, zeigte sie auch das andere Bein und verließ den lauten Ort. Kehrte jedoch sofort wieder zurück, als das nunmehr glückliche Mädchen erleichtert mit der Fütterung begann. Mutter und Vater sicherten mit dem Rücken zum Geschehen den städtischen Tatort.



Beide Berichte zeigen, wie schwer es der Bürgermeister und seine Räte trotz vielerlei Bemühen haben, die Stadt zu regieren – feinfühlig und umsichtig, zum Wohle und zur Zufriedenheit aller.



Das bezeugt auch ein Abschlußgespräch mit drei Rebellen, die sich entschlossen nach wie vor gegen die Verordnung stellen. Alle Vornamen sind dem Autor bekannt, unterliegen jedoch dem Informantenschutz, den der Rechtsstaat garantiert. Rebellin A, vier Jahre: „Wir werden dem Bürgermeister ein Angebot unterbreiten, das er nicht ablehnen kann.“ Rebellin B, gleichfalls vier Jahre aus der Astrid-Lindgren-Kindergartengruppe „Ronja Räubertochter“: „Oder den Rat stürzen!“ Rebell C, mein Nachbar, im August vier, auf deutsch und russisch: „Wir schaffen das!“

Donnerstag, 10. März 2016




Wie der Frühling nach Sondershausen kommt

Mit einer ehrenvollen Erinnerung an einige Sondershäuser Bürger von damals und heute und zum Andenken an den verdienst- wie auch humorvollen Redakteur von einst Karl-Heinz Meyer

Von HUBERT APPENRODT



Ob nun jemand gerade traurig auf dem Sofa sitzt oder die Fenster und sein Herz weit geöffnet hat, ob nun einer verzagt oder helle Freude am Leben empfindet, ob nun einer gesund ist oder mit Fieber krank im Bett liegt, ob nun einer lebt oder glaubt, bereits gestorben zu sein - das Frühjahr kommt ja doch. Auch nach Sondershausen. Aber nicht, wenn der Frühling nicht angemessen empfangen wird.



Vor vielen Jahren tagte wieder einmal das Sondershäuser Frühlingsempfangskomitee im Gasthaus zur Sonne, faßte nach langwierigem Hin und Her zur späten Stunde einen Beschluß, versäumte aber anderntags, dem Auserwählten fristgerecht den wichtigen Empfangsauftrag auch mitzuteilen. Weil sie in fröhlicher Runde und aus menschlicher Schwäche zuviel Tee mit Rum aus Kuba getrunken hatten. Es war ja noch Winter und kalt. So kam zwar Wochen später munter und frohen Schrittes der Frühling zur vorgesehenen Stunde auf der Chaussee von Frankenhausen her auf die Kreisstadt zu, aber niemand war zum Empfang erschienen. Als der junge Frühling das sah, beschloß er kurzerhand, Sondershausen zu umgehen. Und so kam es, daß wenige Wochen später zum ersten Mai noch einmal Schnee auf die Ehrentribüne der Arbeiterklasse herabfiel und auf ihre hohen Gäste und die Blasinstrumente der Bergmannskapelle. Das sonst kraftvoll geschmetterte „Glückauf“ fiel diesmal musikalisch kühl aus. Und auch das allgemeine Anbaden Mitte Mai mußte in jenem Jahr notgedrungen auf August verlegt werden. In der Zeitung war zu lesen, daß jene mit Veilchen am Revers mit zuviel Rum im Tee getagt hätten und Schuld am Durcheinander der Jahreszeiten trügen. Darüber beklagen sich die ehemaligen Komiteemitglieder noch heute bei Veteranentreffs im Altstadtcafe, erkennbar an den blauen Ehrenveilchen.



Redakteur Meyer hatte den kleinen Text verfaßt und entschied zusammen mit dem Hauptredakteur, den Frühling im kommenden Jahr selbst entgegenzugehen, würdevoll, mit frisch angespitztem Bleistift und einem Notizblock für das Interview mit vorbereiteten Fragen und einem politisch neutralen Frühlingsbändchen am Revers. Darauf bereitete sich Redakteur Meyer, der stets auf Ordnung an und auf seinem Schreibtisch achtete, sehr sorgsam vor. Er überprüfte noch einmal die mechanische Schreibmaschine auf Funktionstüchtigkeit: klick, klack – klicker, klacker, klick, klick, klick Alle Tasten in Ordnung, alle Anschläge ließen sich korrekt ausführen. Zum Abschluß richtete Redakteur Meyer alle Bleistifte, Kugelschreiber und Blätter auf der Tischplatte zueinander in rechtem Winkel aus und klopfte zum Redaktionsschluß dreimal auf Holz. Am Abend begab er sich noch vor der „Aktuellen Kamera“ zur Nachtruhe, um anderntags ausgeruht dem Frühling entgegengehen zu können. In der Nacht träumte er von Blumen rot und blau, vom Maientanz unter grünen Linden, vom Ende des Winters und frühbürgerlicher Revolution. Und hätte bei dem schönen Traum beinahe verschlafen, wenn ihn nicht seine Frau geweckt hätte.



Mit einem Sprung aus dem weichen Federbett waren im Nu auch rasch alle Morgenangelegenheiten verrichtet. Die Haare gekämmt, die Krawatte gerichtet, da ging Redakteur Meyer schon leichten Schrittes auf der Chaussee dem Frühling entgegen, der, heiteren Gemüts von Frankenhausen kommend, sich noch vor seinem Erscheinen mit einem Sonnenstrahl ankündigte. Sogleich lag über der kleinen Landschaft ein Zauber, wie er frohen Herzens vom Himmel nur an einem Frühlingstag verschenkt werden kann. Redakteur Meyer blieb stehen, sah sich um und erfreute sich still und beglückt an der erhabenen Schönheit dieser frohen Morgenstunde, in Erwartung des Frühlings. Dem ersten warmen Sonnenstrahl folgten weitere, und über den sanften Hügeln vor Berka ging allmählich die Sonne auf, bis schließlich auch er, der Lenz, zu sehen war - ein junger Bursche, frühlingshaft mit wehendem Blondhaar, mit hellem, fröhlichem Gesicht, leuchtenden blauen Augen und einem Wanderstab mit Frühlingsbändchen.



Redakteur Meyer hieß den Frühling sogleich im Namen der Stadt, der Lokalseite und ihrer Leser herzlich willkommen. „Danke!“ sagte der Frühling und freute sich über die freundlichen Worte. – „Darf ich einige Fragen stellen?“ Beide gingen nun nebeneinander auf die Stadt zu. „Welches Grün hat der Frühling in diesem Jahr für die Windleite ausgesucht?“ – „Es bleibt beim dunklen Grün nach den Vorgaben des Huflattichs aus dem Farbenbuch des Frauenbergs.“ Redakteur Meyer notierte Huflattich, ein helleres Grün ist für die Hainleite und ein wunderbares Gelb für die Kornfelder. – „Für die Kornfelder?“ – „Die Farbe für das Getreide bringe ich immer mit, nicht der Sommer. Der ist nur für die Reife zuständig, für die Wassertemperaturen im Bergbad, für Regen, Gewitter und Sonnenschein.“ Der Frühling hielt inne und  sah Redakteur Meyer streng an: „ Das steht auch  immer wieder falsch in der Zeitung.“



Redakteur Meyer errötete: „Der Volontär. Einmal ich. Wir geloben Besserung.“ – „Dafür wird niemand mehr heutzutage in Ketten gelegt“, sagte der Frühling in versöhnlichem Ton, „obwohl es vielleicht manchmal helfen könnte.“ Da waren beide auch schon bei den ersten Vorgärten angekommen. „Welche Gesänge werden unsere gefiederten Freunde in den Gärten, Parks und auf weiter Flur“, Redakteur Meyer holte tief Luft, „und in den Wäldern“, er holte noch einmal Luft, „in diesem Jahr vielleicht sogar in Konkurrenz zum Lohorchester darbieten?“ – „Es bleibt vorerst bei den alten Gesängen, mit Aussicht auf neue Strophen vielleicht in fünfzehn Jahren.“ – „Das wäre dann ein neuer Gesang um 1989 herum“, notierte Redakteur Meyer nachdenklich und etwas verunsichert in sein Redakteurmerkheft: „Abschließend, werden die Schwäne auf unseren Teichen bleiben, die Stadt behüten und weiterhin für Nachwuchs sorgen?“ – „In Sondershausen bringen nicht nur die Störche die Kinder zu ihren Müttern, sondern in Zusammenarbeit mit den Schwänen. Sie werden also bleiben müssen.“ Redakteur Meyer notierte: „Die Schwäne werden die Stadt weiterhin beschützen und mehren.“ Erleichtert klappte er sein Notizbuch zu: „Ich danke für das Gespräch.“



Am Ortseingangsschild hatte sich indessen der Bürgermeister der Stadt aufgestellt, mit einem Blumenstrauß und einem Begrüßungstext, auswendig gelernt, darin einige Bitten um Entschuldigung wegen des vorigen Jahres, und Wünschen für die landwirtschaftliche Planerfüllung in diesem Jahr. Redakteur Meyer, der sich vom Frühling bereits verabschiedet hatte, sagte dem Bürgermeister im Vorübergehen Guten Morgen und eilte mit wehenden Rockschößen in die Redaktion.



Hier angekommen, nahm er kerzengerade an seinem Schreibtisch Platz, spannte ein neues weißes Blatt in seine alte Rheinmetall aus Sömmerda, schaute zum Fenster vor ihm auf, durch die blitzblanken Scheiben hindurch, hinauf zum blauen Himmel über Sondershausen und dachte beim tiefen Einatmen über den ersten Satz nach.



Zur gleichen Zeit sangen im Unterrichtsraum neben der Aula der Käthe-Kollwitz-Schule die Jungen und Mädchen einer dritten Klasse „Nun will der Lenz uns grüßen“. Frau Rosenstiel begleitete sie dazu auf dem Akkordeon. Die Schüler hatten sich zum Singen erhoben und konnten beim Gesang zum Fenster hin über die Dächer von Sondershausen sehen, im Hintergrund erkennbar die flachen Hügel der Windleite. Am Haus der Kunst stellte zu dieser Zeit Herr Gertler aus dem Schersental sein Fahrrad ab und eilte mit seiner Violine zur Orchesterprobe für Vivaldis Jahreszeiten, dessen Frühlingssatz am Abend in einem Lohkonzert besonders schön erklingen sollte. In der Hospitalstraße schaltet Schuldirektor Löhrius das Radio an: „Heute wollen wir einmal nicht traurig sein“, drehte sich um und sagte leise zu seiner Frau: „Darf ich bitten?“ Und beide schwebten zum Donauwalzer aus dem Radio in ihrem Wohnzimmer um den großen Stubentisch herum. Wie in alten unbeschwerten Tagen, von denen sie aber glaubten, sie seien für immer vergangen, weil sie vor Jahren ihren kleinen Sohn verloren hatten. Als der Walzer verklungen war, sagte Frau Löhrius: „Unser lieber Junge hat uns  eben zugesehen.“ –„Und sich gefreut. Er weiß ja, daß wir einmal bei ihm sein werden.“ Im Kräuter- und Gemüsegarten indessen, den es damals noch am Krankenhaus gab, unterbrach zur gleichen Zeit Herr Aschoff das Herrichten eines Frühjahrsbeets und griff mit der Hand ins lockere Erdreich. Als ich bei ihm stand, hielt er mir seine flache Hand mit der Erde entgegen: „Sieh mal, das ist alles Leben. Darin ist soviel Leben.“ – „Ja“, sagte ich, „das hatten wir im Biologieunterricht. Bei Herrn Henze.“ – „Heute ist Frühlingsanfang“, sagte Herr Aschoff, „da erwacht alles Leben neu. Und dafür richte ich das Beet her.“



Im Redaktionszimmer hatte währenddessen Redakteur Meyer seinen ersten Satz für die Zeitung in die Schreibmaschine getippt: „Seit gestern haben wir auch in Sondershausen Frühlingsanfang.“ Einmal in Schwung, war der kleine Zeitungsbeitrag für den nächsten Tag bald fertig: „Mit den ersten Sonnenstrahlen über den Hügeln vor Sondershausen traf der Lenz zur vorgegebenen Zeit ein und hauchte sanft der Windleite das erste Grün ein, danach ließ er die Hügel der Hainleite ergrünen. Der Himmel war blau und strahlte. In den Gärten wird es bald rot und blau blühen. Der Frühling wurde am Stadtrand von unserem Bürgermeister empfangen. Im Rathaus schrieb er sich in das dicke Buch der Sondershäuser Jahreszeiten mit schwungvoller Hand als Lenz Frühling ein, mit dem Versprechen, im nächsten Jahr eine Nachtigall für den Schloßpark und Lerchen für den Himmel über dem Possen mitzubringen. Im Park wurde eine Amsel mit einem Halm im Schnabel gesichtet, im Hof der alten Schäferei beim Gasthaus ‚Zum schwarzen Bären’ hielten Schwalben Ausschau für den Nestbau. Die Schwäne auf dem Parkteich bezeugten einander ihre Zuneigung. An einigen Bäumen im Park und in der Stadt zeigten sich die ersten Knospen. Gestern war für uns alle ein schöner Tag.“  So war es am nächsten Tag fehlerfrei in der Zeitung nachzulesen.



In jedem Jahr kommt so der Frühling nach Sondershausen. Und alles Leben erwacht neu. Nichts bleibt beim alten.





Wie der Sommer nach Sondershausen kommt

Für alle kleinen und großen Kinder das Sondershäuser Sommermärchen

Es ist auf der ganzen Welt so. Wenn es dem Menschen zu gut geht, erfassen ihn trübe Gedanken. Nicht anders ergeht es immer wieder dem empfindsamen Frühling in Sondershausen. Es hilft ihm nur wenig, daß er einst im März frohgemut mit Blumenkränzen und Nachtigallen das unsichtbare Stadttor durchschritt - voller Freude, Lebenskraft und Zuversicht. Die Maikühle kommt ja doch. Obwohl es in allen Gärten grünte und blühte, wie es das städtische Pflichtenheft vorsah, es wurden auch reichlich frühlingshafte Bande geknüpft, alle Frühlingsfarben konnten gezählt und auf Prüfbögen der städtischen Frühlingsbeamten ausgewiesen werden, am ersten Maientag erfaßte ihn dennoch große Betrübnis. Da half es auch wenig, daß nahezu alle Sondershäuser Stadtbürger ihn lobten: Haben wir in diesem Jahr nicht einen wunderbaren Frühling! Ihm war es zu kalt. Der städtische Frühlingsarzt notierte: bipolarer Weltschmerz bei anhaltender Maikühle, länger als drei Wochen, arbeitsunfähig.



„Verlorene Zeit, verlorene Tage“, sprach der Frühling am nächsten kühlen Morgen beim Spazierengehen im Schloßpark vor sich hin.“ Und stellte noch betrübter fest: „Und die Hälfte meiner Zeit als Frühjahr ist ja auch schon wieder rum.“ Wie im Fluge vergangen. Die Schwäne, die sich das anhörten, bekümmerte das nicht sonderlich. In jedem Jahr sei das so, immer, wenn wir einen kühlen Mai haben. Die Enten sahen noch nicht einmal auf, und auch die anderen Spaziergänger hatten den klagenden Frühling bereits aus den Augen verloren. Als er mit seinem Weltschmerz den Markt erreichte, klopfte er kurzentschlossen beim Bürgermeister an, wurde hereingebeten und nahm dankbar die Gelegenheit wahr, sich im Bürgermeisteramtszimmer einmal auszusprechen. Der Bürgermeister beruhigend: „Alles halb so schlimm, so ist nun einmal das Leben“, griff rasch zum Telefon und rief den Sommer an: „Geht es in diesem Jahr eher?“



„Ja“, sagte der Sommer. Er hatte den Anruf bereits erwartet, seit dem frühen Morgen saß er neben dem Telefon, die Hand auf dem Hörer. Jahreszeitenklatsch spricht sich schnell herum. Nach der Zusage begannen anderntags sogleich im Rathaussaal zu den vier städtischen Jahreszeiten die Neuverhandlungen. Der Bürgermeister hatte die Angelegenheit zur Chefsache erklärt. Am Tisch saßen sich betrübter Frühling mit wärmendem Hipsterschal auf der einen und frohsinniger Sommer im goldgelben Hemd auf der anderen Seite gegenüber, der Bürgermeister trug ihnen den Textentwurf zum Neuvertrag vor. Zum Aufhellen der Stimmung tranken sie vorsichtshalber ein Gläschen vom Guten. Dazu reichte der Bürgermeister gegen die städtische Hausordnung teure Orientzigaretten, mit Mundstück, aus altem Bestand.



Wie in alten Zeiten, die Bedingungen waren schnell angenommen. Der Frühling zieht zur Gemütsaufhellung vom Schloßturm vorzeitig in den lichthellen Westflügel des Schlosses, der Sommer vor seiner Zeit ins amtliche Schloßturmzimmer. Dann noch dies und das und jenes und für dem Frühling die Möglichkeit, die verbleibenden Tage bis zum kalendarischen Sommerbeginn als Stadtschreiber zu verbringen. Für Gedichte und Elogen auf das kleinstädtische Großstadtleben in Sondershausen, auf den Klimawandel und die Liebe. Und auf die Loh-Musiker, die Noten und das Orchester, auf Sondershäuser Schulen mit angenehmem Frontalunterricht und rebellische Kindergärten mit Nudelgerichten. Auf Eisbein und Sauerkraut im Thüringer Hof - und schwere Sahnetorten im Cafe Pille. Der Frühling war einverstanden, Der Sommer nahm noch einen Schluck aus dem Gläschen vom Guten und war beschwipst und auch einverstanden. Der Bürgermeister ging zum Rathausöfchen und zündete ein Feuerchen an. Über dem Rathaus stieg weißer Rauch auf. Der Sommer war in sein Amt eingesetzt, vollgültig, auf einer Urkunde: Plautsch!, mit dem schweren Bürgermeisteramtsstempel für vorzeitige Jahreswechsel versehen! Ab dem ersten Juni würde ununterbrochen wie in jedem Jahr den ganzen Sommer über die Feriensonne scheinen. Alle waren zufrieden, reichten sich die Hand und traten gemeinsam zum Pressefoto vor das Rathaus. Es war sommerlich warm.



Als sich alle verabschiedet hatten, brach langsam die Abenddämmerung herein, und in die Stadt hielt der städtische Abendfrieden seinen Einzug. Vor dem Jechator acht betrachtete Daniel, in wenigen Wochen drei Jahre, den aufgehenden Vollmond, der zu ihm ins Zimmer hineinleuchtete, nachdem seine Mutter ihn zum Schlafen gebettet hatte, und hörte seinen Vater auf dem Balkon noch etwas sagen. „Seltsam“, sagte der Vater, der noch eine Zigarette rauchte, „es war heute den ganzen Tag über warm wie im August.“ – „Oder wie in Afrika“, dachte Daniel bei sich, bevor er einschlief: „In Afrika ist immer August“. Das hatte er aus dem Kindergarten mit nach Hause gebracht.



So kam in diesem Jahr der Sommer nach Sondershausen, so ist es fast in jedem Jahr.