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Donnerstag, 10. März 2016




Wie der Frühling nach Sondershausen kommt

Mit einer ehrenvollen Erinnerung an einige Sondershäuser Bürger von damals und heute und zum Andenken an den verdienst- wie auch humorvollen Redakteur von einst Karl-Heinz Meyer

Von HUBERT APPENRODT



Ob nun jemand gerade traurig auf dem Sofa sitzt oder die Fenster und sein Herz weit geöffnet hat, ob nun einer verzagt oder helle Freude am Leben empfindet, ob nun einer gesund ist oder mit Fieber krank im Bett liegt, ob nun einer lebt oder glaubt, bereits gestorben zu sein - das Frühjahr kommt ja doch. Auch nach Sondershausen. Aber nicht, wenn der Frühling nicht angemessen empfangen wird.



Vor vielen Jahren tagte wieder einmal das Sondershäuser Frühlingsempfangskomitee im Gasthaus zur Sonne, faßte nach langwierigem Hin und Her zur späten Stunde einen Beschluß, versäumte aber anderntags, dem Auserwählten fristgerecht den wichtigen Empfangsauftrag auch mitzuteilen. Weil sie in fröhlicher Runde und aus menschlicher Schwäche zuviel Tee mit Rum aus Kuba getrunken hatten. Es war ja noch Winter und kalt. So kam zwar Wochen später munter und frohen Schrittes der Frühling zur vorgesehenen Stunde auf der Chaussee von Frankenhausen her auf die Kreisstadt zu, aber niemand war zum Empfang erschienen. Als der junge Frühling das sah, beschloß er kurzerhand, Sondershausen zu umgehen. Und so kam es, daß wenige Wochen später zum ersten Mai noch einmal Schnee auf die Ehrentribüne der Arbeiterklasse herabfiel und auf ihre hohen Gäste und die Blasinstrumente der Bergmannskapelle. Das sonst kraftvoll geschmetterte „Glückauf“ fiel diesmal musikalisch kühl aus. Und auch das allgemeine Anbaden Mitte Mai mußte in jenem Jahr notgedrungen auf August verlegt werden. In der Zeitung war zu lesen, daß jene mit Veilchen am Revers mit zuviel Rum im Tee getagt hätten und Schuld am Durcheinander der Jahreszeiten trügen. Darüber beklagen sich die ehemaligen Komiteemitglieder noch heute bei Veteranentreffs im Altstadtcafe, erkennbar an den blauen Ehrenveilchen.



Redakteur Meyer hatte den kleinen Text verfaßt und entschied zusammen mit dem Hauptredakteur, den Frühling im kommenden Jahr selbst entgegenzugehen, würdevoll, mit frisch angespitztem Bleistift und einem Notizblock für das Interview mit vorbereiteten Fragen und einem politisch neutralen Frühlingsbändchen am Revers. Darauf bereitete sich Redakteur Meyer, der stets auf Ordnung an und auf seinem Schreibtisch achtete, sehr sorgsam vor. Er überprüfte noch einmal die mechanische Schreibmaschine auf Funktionstüchtigkeit: klick, klack – klicker, klacker, klick, klick, klick Alle Tasten in Ordnung, alle Anschläge ließen sich korrekt ausführen. Zum Abschluß richtete Redakteur Meyer alle Bleistifte, Kugelschreiber und Blätter auf der Tischplatte zueinander in rechtem Winkel aus und klopfte zum Redaktionsschluß dreimal auf Holz. Am Abend begab er sich noch vor der „Aktuellen Kamera“ zur Nachtruhe, um anderntags ausgeruht dem Frühling entgegengehen zu können. In der Nacht träumte er von Blumen rot und blau, vom Maientanz unter grünen Linden, vom Ende des Winters und frühbürgerlicher Revolution. Und hätte bei dem schönen Traum beinahe verschlafen, wenn ihn nicht seine Frau geweckt hätte.



Mit einem Sprung aus dem weichen Federbett waren im Nu auch rasch alle Morgenangelegenheiten verrichtet. Die Haare gekämmt, die Krawatte gerichtet, da ging Redakteur Meyer schon leichten Schrittes auf der Chaussee dem Frühling entgegen, der, heiteren Gemüts von Frankenhausen kommend, sich noch vor seinem Erscheinen mit einem Sonnenstrahl ankündigte. Sogleich lag über der kleinen Landschaft ein Zauber, wie er frohen Herzens vom Himmel nur an einem Frühlingstag verschenkt werden kann. Redakteur Meyer blieb stehen, sah sich um und erfreute sich still und beglückt an der erhabenen Schönheit dieser frohen Morgenstunde, in Erwartung des Frühlings. Dem ersten warmen Sonnenstrahl folgten weitere, und über den sanften Hügeln vor Berka ging allmählich die Sonne auf, bis schließlich auch er, der Lenz, zu sehen war - ein junger Bursche, frühlingshaft mit wehendem Blondhaar, mit hellem, fröhlichem Gesicht, leuchtenden blauen Augen und einem Wanderstab mit Frühlingsbändchen.



Redakteur Meyer hieß den Frühling sogleich im Namen der Stadt, der Lokalseite und ihrer Leser herzlich willkommen. „Danke!“ sagte der Frühling und freute sich über die freundlichen Worte. – „Darf ich einige Fragen stellen?“ Beide gingen nun nebeneinander auf die Stadt zu. „Welches Grün hat der Frühling in diesem Jahr für die Windleite ausgesucht?“ – „Es bleibt beim dunklen Grün nach den Vorgaben des Huflattichs aus dem Farbenbuch des Frauenbergs.“ Redakteur Meyer notierte Huflattich, ein helleres Grün ist für die Hainleite und ein wunderbares Gelb für die Kornfelder. – „Für die Kornfelder?“ – „Die Farbe für das Getreide bringe ich immer mit, nicht der Sommer. Der ist nur für die Reife zuständig, für die Wassertemperaturen im Bergbad, für Regen, Gewitter und Sonnenschein.“ Der Frühling hielt inne und  sah Redakteur Meyer streng an: „ Das steht auch  immer wieder falsch in der Zeitung.“



Redakteur Meyer errötete: „Der Volontär. Einmal ich. Wir geloben Besserung.“ – „Dafür wird niemand mehr heutzutage in Ketten gelegt“, sagte der Frühling in versöhnlichem Ton, „obwohl es vielleicht manchmal helfen könnte.“ Da waren beide auch schon bei den ersten Vorgärten angekommen. „Welche Gesänge werden unsere gefiederten Freunde in den Gärten, Parks und auf weiter Flur“, Redakteur Meyer holte tief Luft, „und in den Wäldern“, er holte noch einmal Luft, „in diesem Jahr vielleicht sogar in Konkurrenz zum Lohorchester darbieten?“ – „Es bleibt vorerst bei den alten Gesängen, mit Aussicht auf neue Strophen vielleicht in fünfzehn Jahren.“ – „Das wäre dann ein neuer Gesang um 1989 herum“, notierte Redakteur Meyer nachdenklich und etwas verunsichert in sein Redakteurmerkheft: „Abschließend, werden die Schwäne auf unseren Teichen bleiben, die Stadt behüten und weiterhin für Nachwuchs sorgen?“ – „In Sondershausen bringen nicht nur die Störche die Kinder zu ihren Müttern, sondern in Zusammenarbeit mit den Schwänen. Sie werden also bleiben müssen.“ Redakteur Meyer notierte: „Die Schwäne werden die Stadt weiterhin beschützen und mehren.“ Erleichtert klappte er sein Notizbuch zu: „Ich danke für das Gespräch.“



Am Ortseingangsschild hatte sich indessen der Bürgermeister der Stadt aufgestellt, mit einem Blumenstrauß und einem Begrüßungstext, auswendig gelernt, darin einige Bitten um Entschuldigung wegen des vorigen Jahres, und Wünschen für die landwirtschaftliche Planerfüllung in diesem Jahr. Redakteur Meyer, der sich vom Frühling bereits verabschiedet hatte, sagte dem Bürgermeister im Vorübergehen Guten Morgen und eilte mit wehenden Rockschößen in die Redaktion.



Hier angekommen, nahm er kerzengerade an seinem Schreibtisch Platz, spannte ein neues weißes Blatt in seine alte Rheinmetall aus Sömmerda, schaute zum Fenster vor ihm auf, durch die blitzblanken Scheiben hindurch, hinauf zum blauen Himmel über Sondershausen und dachte beim tiefen Einatmen über den ersten Satz nach.



Zur gleichen Zeit sangen im Unterrichtsraum neben der Aula der Käthe-Kollwitz-Schule die Jungen und Mädchen einer dritten Klasse „Nun will der Lenz uns grüßen“. Frau Rosenstiel begleitete sie dazu auf dem Akkordeon. Die Schüler hatten sich zum Singen erhoben und konnten beim Gesang zum Fenster hin über die Dächer von Sondershausen sehen, im Hintergrund erkennbar die flachen Hügel der Windleite. Am Haus der Kunst stellte zu dieser Zeit Herr Gertler aus dem Schersental sein Fahrrad ab und eilte mit seiner Violine zur Orchesterprobe für Vivaldis Jahreszeiten, dessen Frühlingssatz am Abend in einem Lohkonzert besonders schön erklingen sollte. In der Hospitalstraße schaltet Schuldirektor Löhrius das Radio an: „Heute wollen wir einmal nicht traurig sein“, drehte sich um und sagte leise zu seiner Frau: „Darf ich bitten?“ Und beide schwebten zum Donauwalzer aus dem Radio in ihrem Wohnzimmer um den großen Stubentisch herum. Wie in alten unbeschwerten Tagen, von denen sie aber glaubten, sie seien für immer vergangen, weil sie vor Jahren ihren kleinen Sohn verloren hatten. Als der Walzer verklungen war, sagte Frau Löhrius: „Unser lieber Junge hat uns  eben zugesehen.“ –„Und sich gefreut. Er weiß ja, daß wir einmal bei ihm sein werden.“ Im Kräuter- und Gemüsegarten indessen, den es damals noch am Krankenhaus gab, unterbrach zur gleichen Zeit Herr Aschoff das Herrichten eines Frühjahrsbeets und griff mit der Hand ins lockere Erdreich. Als ich bei ihm stand, hielt er mir seine flache Hand mit der Erde entgegen: „Sieh mal, das ist alles Leben. Darin ist soviel Leben.“ – „Ja“, sagte ich, „das hatten wir im Biologieunterricht. Bei Herrn Henze.“ – „Heute ist Frühlingsanfang“, sagte Herr Aschoff, „da erwacht alles Leben neu. Und dafür richte ich das Beet her.“



Im Redaktionszimmer hatte währenddessen Redakteur Meyer seinen ersten Satz für die Zeitung in die Schreibmaschine getippt: „Seit gestern haben wir auch in Sondershausen Frühlingsanfang.“ Einmal in Schwung, war der kleine Zeitungsbeitrag für den nächsten Tag bald fertig: „Mit den ersten Sonnenstrahlen über den Hügeln vor Sondershausen traf der Lenz zur vorgegebenen Zeit ein und hauchte sanft der Windleite das erste Grün ein, danach ließ er die Hügel der Hainleite ergrünen. Der Himmel war blau und strahlte. In den Gärten wird es bald rot und blau blühen. Der Frühling wurde am Stadtrand von unserem Bürgermeister empfangen. Im Rathaus schrieb er sich in das dicke Buch der Sondershäuser Jahreszeiten mit schwungvoller Hand als Lenz Frühling ein, mit dem Versprechen, im nächsten Jahr eine Nachtigall für den Schloßpark und Lerchen für den Himmel über dem Possen mitzubringen. Im Park wurde eine Amsel mit einem Halm im Schnabel gesichtet, im Hof der alten Schäferei beim Gasthaus ‚Zum schwarzen Bären’ hielten Schwalben Ausschau für den Nestbau. Die Schwäne auf dem Parkteich bezeugten einander ihre Zuneigung. An einigen Bäumen im Park und in der Stadt zeigten sich die ersten Knospen. Gestern war für uns alle ein schöner Tag.“  So war es am nächsten Tag fehlerfrei in der Zeitung nachzulesen.



In jedem Jahr kommt so der Frühling nach Sondershausen. Und alles Leben erwacht neu. Nichts bleibt beim alten.





Wie der Sommer nach Sondershausen kommt

Für alle kleinen und großen Kinder das Sondershäuser Sommermärchen

Es ist auf der ganzen Welt so. Wenn es dem Menschen zu gut geht, erfassen ihn trübe Gedanken. Nicht anders ergeht es immer wieder dem empfindsamen Frühling in Sondershausen. Es hilft ihm nur wenig, daß er einst im März frohgemut mit Blumenkränzen und Nachtigallen das unsichtbare Stadttor durchschritt - voller Freude, Lebenskraft und Zuversicht. Die Maikühle kommt ja doch. Obwohl es in allen Gärten grünte und blühte, wie es das städtische Pflichtenheft vorsah, es wurden auch reichlich frühlingshafte Bande geknüpft, alle Frühlingsfarben konnten gezählt und auf Prüfbögen der städtischen Frühlingsbeamten ausgewiesen werden, am ersten Maientag erfaßte ihn dennoch große Betrübnis. Da half es auch wenig, daß nahezu alle Sondershäuser Stadtbürger ihn lobten: Haben wir in diesem Jahr nicht einen wunderbaren Frühling! Ihm war es zu kalt. Der städtische Frühlingsarzt notierte: bipolarer Weltschmerz bei anhaltender Maikühle, länger als drei Wochen, arbeitsunfähig.



„Verlorene Zeit, verlorene Tage“, sprach der Frühling am nächsten kühlen Morgen beim Spazierengehen im Schloßpark vor sich hin.“ Und stellte noch betrübter fest: „Und die Hälfte meiner Zeit als Frühjahr ist ja auch schon wieder rum.“ Wie im Fluge vergangen. Die Schwäne, die sich das anhörten, bekümmerte das nicht sonderlich. In jedem Jahr sei das so, immer, wenn wir einen kühlen Mai haben. Die Enten sahen noch nicht einmal auf, und auch die anderen Spaziergänger hatten den klagenden Frühling bereits aus den Augen verloren. Als er mit seinem Weltschmerz den Markt erreichte, klopfte er kurzentschlossen beim Bürgermeister an, wurde hereingebeten und nahm dankbar die Gelegenheit wahr, sich im Bürgermeisteramtszimmer einmal auszusprechen. Der Bürgermeister beruhigend: „Alles halb so schlimm, so ist nun einmal das Leben“, griff rasch zum Telefon und rief den Sommer an: „Geht es in diesem Jahr eher?“



„Ja“, sagte der Sommer. Er hatte den Anruf bereits erwartet, seit dem frühen Morgen saß er neben dem Telefon, die Hand auf dem Hörer. Jahreszeitenklatsch spricht sich schnell herum. Nach der Zusage begannen anderntags sogleich im Rathaussaal zu den vier städtischen Jahreszeiten die Neuverhandlungen. Der Bürgermeister hatte die Angelegenheit zur Chefsache erklärt. Am Tisch saßen sich betrübter Frühling mit wärmendem Hipsterschal auf der einen und frohsinniger Sommer im goldgelben Hemd auf der anderen Seite gegenüber, der Bürgermeister trug ihnen den Textentwurf zum Neuvertrag vor. Zum Aufhellen der Stimmung tranken sie vorsichtshalber ein Gläschen vom Guten. Dazu reichte der Bürgermeister gegen die städtische Hausordnung teure Orientzigaretten, mit Mundstück, aus altem Bestand.



Wie in alten Zeiten, die Bedingungen waren schnell angenommen. Der Frühling zieht zur Gemütsaufhellung vom Schloßturm vorzeitig in den lichthellen Westflügel des Schlosses, der Sommer vor seiner Zeit ins amtliche Schloßturmzimmer. Dann noch dies und das und jenes und für dem Frühling die Möglichkeit, die verbleibenden Tage bis zum kalendarischen Sommerbeginn als Stadtschreiber zu verbringen. Für Gedichte und Elogen auf das kleinstädtische Großstadtleben in Sondershausen, auf den Klimawandel und die Liebe. Und auf die Loh-Musiker, die Noten und das Orchester, auf Sondershäuser Schulen mit angenehmem Frontalunterricht und rebellische Kindergärten mit Nudelgerichten. Auf Eisbein und Sauerkraut im Thüringer Hof - und schwere Sahnetorten im Cafe Pille. Der Frühling war einverstanden, Der Sommer nahm noch einen Schluck aus dem Gläschen vom Guten und war beschwipst und auch einverstanden. Der Bürgermeister ging zum Rathausöfchen und zündete ein Feuerchen an. Über dem Rathaus stieg weißer Rauch auf. Der Sommer war in sein Amt eingesetzt, vollgültig, auf einer Urkunde: Plautsch!, mit dem schweren Bürgermeisteramtsstempel für vorzeitige Jahreswechsel versehen! Ab dem ersten Juni würde ununterbrochen wie in jedem Jahr den ganzen Sommer über die Feriensonne scheinen. Alle waren zufrieden, reichten sich die Hand und traten gemeinsam zum Pressefoto vor das Rathaus. Es war sommerlich warm.



Als sich alle verabschiedet hatten, brach langsam die Abenddämmerung herein, und in die Stadt hielt der städtische Abendfrieden seinen Einzug. Vor dem Jechator acht betrachtete Daniel, in wenigen Wochen drei Jahre, den aufgehenden Vollmond, der zu ihm ins Zimmer hineinleuchtete, nachdem seine Mutter ihn zum Schlafen gebettet hatte, und hörte seinen Vater auf dem Balkon noch etwas sagen. „Seltsam“, sagte der Vater, der noch eine Zigarette rauchte, „es war heute den ganzen Tag über warm wie im August.“ – „Oder wie in Afrika“, dachte Daniel bei sich, bevor er einschlief: „In Afrika ist immer August“. Das hatte er aus dem Kindergarten mit nach Hause gebracht.



So kam in diesem Jahr der Sommer nach Sondershausen, so ist es fast in jedem Jahr.




Erinnerungen als ungeschriebenes Buch

zum ewigen Lehrer- und Schülernachruhm

Kleine Sondershäuser Alltagsgeschichte – unsere Klassentreffen

Klassentreffen sind stets kleine Erinnerungsfeste. Am Beginn steht der erste Schultag, der allen Erinnerungen voranleuchtet. Das war für uns vor sechzig Jahren, an einem Donnerstag, am ersten September. Da saßen wir zum ersten Mal neugierig nebeneinander in der Aula der Käthe-Kollwitz-Schule. Vornehmlich unsere Mütter hatten uns auf diesen Tag vorbereitet und darauf, was danach vor allem auf uns zukäme, allerlei Pflichten, zum aufmerksamen Zuhören und fleißigen Lernen und Erledigen der Hausaufgaben. Zunächst aber erst einmal der freudige Empfang der Zuckertüten vom großen Zuckertütenbaum in der Aula. Herr Muhlack, der Schuldirektor, hielt eine kleine Ansprache, danach trugen einige von den größeren Schülern Gedichte für uns Erstkläßler vor, und sie sangen einige Lieder. Frau Rosenstiel begleitete sie dazu auf dem Akkordeon, das sie noch heute spielt. Nach der kleinen Feier gingen wir durch das Schulgebäude und betraten ein wenig aufgeregt zum erstenmal unsere Unterrichtsräume. Wir setzten uns still in die Bankreihen. Wir waren jetzt Schüler der Klasse 1a und 1b und lauschten andächtig den Worten von Fräulein Weiß und Fräulein Kirchner, unseren Klassenlehrerinnen – an unserem ersten unvergeßlichen Schultag.



Wenn zum Klassentreffen die Einladungen verschickt, am vereinbarten Tag alle erschienen, begrüßt und wiedererkannt sind, genügt es, für einen Augenblick die Augen zu schließen, und alles Vertraute von damals stellt sich sogleich wieder ein – das gemeinsame Lernen und Heranwachsen, die Erinnerung an Freundschaften, Vorlieben und weitererzählte Geheimnisse, die Vergabe von Spitznamen an unsere Lehrer. Ein Jahr war damals für uns noch unendlich lang, die Woche verging kaum, ein Tag hatte so viele Stunden. Vielleicht nahmen wir gerade deshalb so vieles an Erinnerungswertem in uns auf – für später, für das große Gespräch über unser Schülerdasein, das immer wieder neu geführt werden will. So war das beim Klassentreffen im Altstadtcafe vor sechs Jahren, und so war es auch vor zwei Jahren beim Wiedersehen im Thüringer Hof – mit anschließender Stadtbesichtigung und Klassenfoto am sonnigen Spätnachmittag am Sondershäuser Markt.



In diesem Jahr war für ein neues Zusammentreffen der Possen auserwählt worden, am ersten Juniwochenende, zu dem wir in der Schulzeit oft hinaufgewandert waren. Und so saßen wieder einmal die ehemaligen Schüler aus der A neben den Schülern aus der B, also die wohlgeratenen Söhne und Töchter der einen Klasse, wie wir das damals empfanden, neben jenen mit leichtem Hang zu Anarchie und Aufmüpfigkeit. Das sagten wir uns gegenseitig nach; inzwischen sind wir frei von allen Vorurteilen. Gereifte Banknachbarn der einen Klasse plauderten mit den Banknachbarn der Parallelklasse. In diesem Jahr im reservierten Festsaal des Possenrestaurants - vor großen hellen Fenstern unseres Lebens, an einer langen Tafel der Erinnerungen. Die kleinen Erzählungen schwirrten laut und gar nicht leise durch den Raum, begegneten und ergänzten einander. Sammelte jemand alle einmal ein, ergäbe das ein dickes Buch zum ewigen Schüler- und Lehrernachruhm.



Wenn bei unseren Klassentreffen der Nachmittag gekommen ist, gibt es immer eine Überraschung. In diesem Jahr war es das Ansetzen eine Schulsportstunde mit kräftiger Eröffnung: Sport frei!, und wie damals mit Antreten, Ausrichten, Durchzählen, Stationsbetrieb, mit Gewinnern und Trostpreisen, mit viel Spaß. Und besinnlichem Ausklang dann später nach der Kaffeestunde am Nachmittag, zum Beginn der Abenddämmerung, der Zeit, sich zu verabschieden, mit dem Versprechen, das nächste Mal wiederzukommen.



Unsere angenehmen Klassentreffen haben wir einem glanzvollen Vorbereitungskomitee zu verdanken, dem nur ehemalige Mitschülerinnen angehören. Sie tagen alle sechs Wochen, in alphabetischer Reihenfolge: Christel, Dorothea, Hannelore, Marga, Regina und Veronika, denen bereits jetzt für das nächste Treffen in der Stillen Liebe unser Dank im voraus gebührt – und allen anderen auch, die in Sondershausen und anderswo im Landkreis für ihre Mitschüler gleichfalls erinnernswerte Klassentreffen organisieren. Das Leben ist ein langsamer, ruhiger Fluß - bei gegebenem Anlaß läßt sich darüber heiter und vergnügt erzählen.



HUBERT APPENRODT



Aus vergangenen Kindheitstagen im Herbst
mit Kastanien und Kartoffelfeuer

Zum Herbstanfang eine kleine Erinnerung an vergangene Kindheitstage in Sondershausen

Von HUBERT APPENRODT

Sondershausen. Für uns, als wir noch Kinder waren, war der Herbst immer dann gekommen, wenn wir nach dem Unterricht in der Gartenstraße die ersten Kastanien auflesen konnten. Kam über Nacht ein kräftiger Herbstwind auf, der die Straßen durchwehte und auch an den Laibbäumen am Gottesacker rüttelte, war am Morgen der breite Gehweg oft mit halb aufgeplatzten Früchten reichlich übersät, und wir lasen die Kastanien recht schnell auf.

Manche verwendeten wir zum Basteln, zu Hause oder im Werkkundeunterricht. Dazu wählten wir verschiedene Größen aus, nahmen Eicheln hinzu, Moos und kleine Zweige, und im Nu zierten kleine Herbstlandschaften mit Figuren eine Ausstellungsvitrine in unserer Schule oder bei uns zu Hause den kleinen Stubentisch am Wohnzimmerfenster. Wenn unsere Nachbarin Frau Baumbach aus ihrem Garten in Stockhausen, in den sie mich manchmal mitnahm, ihren alljährlichen Strauß Herbstastern vorbeigebracht hatte, war das gleichwohl ein Zeichen, daß nun der Herbst gekommen war. Und ich nahm meinen Malkasten und verewigte den rötlichen Herbstzauber auf Aquarellpapier. Das kaufte ich immer im Schreibwarengeschäft bei Emmi Weide, in der Hauptstraße neben dem alten Thüringer Hof.

Neben den Kastanien in der Gartenstraße trugen auch die Rotbuchen neben unserer Schule in der Puschkinpromenade oft reichliche Früchte, die wir gleichfalls aufsammelten. Immer im September, wenn es ein trockenes Jahr gegeben hatte, gab es sehr viele von ihnen, im folgenden Jahr stets nur wenige. Einmal hob Winfried aus meiner Klasse eine von den Bucheckern auf, zerbrach die seltsam geformte rauhe Schale und zeigte uns die beiden braunglänzenden Nüsse: „Die kann man essen.“ - „Die schmecken sogar“, sagte Herbert. Bernd blieb skeptisch, aber dann probierte er auch eine von ihnen.

Wenn in der Wind- und Hainleite die Wälder begannen sich zu verfärben, im Schloßpark und in den Alleen die ersten Blätter herabfielen, war es bald Zeit, überall das Laub zusammenzufegen, und wir freuten uns auf die Herbstfeuer. Wir besorgten uns Kartoffeln, die wir auf Holzstöckchen aufspießten und in die Glut hielten. Die bald garen Kartoffeln schmeckten wunderbar, die kleinen Aschereste störten uns nicht.

Am letzten Schultag vor den Herbstferien brachte Frau Rosenstiel ihr Akkordeon mit in ihre  Schulklassen, und wir sangen das wunderbare Herbstlied „Bunt sind schon die Wälder - mit Blick hinaus ins Weite und Freie und mit Vorfreude auf die Ferientage. Frau Rosenstiel wird bald neunzig Jahre und spielt noch immer herrlich auf ihrem Akkordeon - zu den Proben oder, wenn der Chor Stimme der Heimat einen Auftritt hat.

Später, als wir zu den älteren Schülern zählten, fuhren wir mehrere Male während der Herbstferien zum Kartoffellesen aufs Land. Für jeden gefüllten Korb gab es eine Marke, die dann nach Ende der Tageslese verrechnet wurden. Meistens für die Klassenkasse, für einen Ausflug im Frühjahr zur iga nach Erfurt oder zum Schulabschluß nach Oberwiesenthal für eine letzte unvergeßliche gemeinsame Woche – mit Herrn Rosenstiel und seiner Frau, dem Direktor unserer Schule und unserem Klassenlehrer. Bei beiden haben wir viel gelernt.

Was gehörte noch in unserer Kindheit zum Herbst: die Geschichte im Lesebuch vom Igel mit aufgespießtem Apfel auf dem Rücken, die Äpfel aus dem Garten meines Großvaters für den Winter, manchmal neue Schuhe oder eine neue lange Hose für die kühlen Tage, einige endlose Regentage, an denen wir unsere Märchenbücher hervorholten, eine kleine Erkältung, einige wundersame Herbststürme, die Novembernebel, das Totengedenken - die ersten Adventssonntage.

In diesen Tagen traf ich vor der Haustür meinen Nachbarn Daniel, seit dem August drei Jahre, der mit seiner Mutter vom Kindergarten gerade nach Hause kam - in der Hand eine braunglänzende Kastanie. Und woher hast du sie, fragte ich. Die hat mir, sagte Daniel, der Herbst geschenkt.





Erster  Schnee

Zum ersten Adventssonntag

Von HUBERT APPENRODT

Einmal gab es das alles wirklich, was als Erinnerung tief in unseren Herzen kindliche Aufbewahrung fand. Und wie in jedem Jahr, wiederholt sich auch in diesem, was wir immer empfinden, wenn die Zeit herangekommen ist. Eben war noch Herbst und letzte Gartenarbeit war zu verrichten, da kündet sich unversehens der letzte Monat im Jahr mit seinen stillen Tagen an, der Vorweihnachtszeit und dem schönsten Fest selbst. Gelegentlich auf besondere Weise, wenn es gerecht zugeht, mit dem ersten Schnee, den sich die Kinder in jedem Jahr so sehr wünschen. Vielleicht weiß jemand, ob damals in Sondershausen, als städtische Bekanntmachungen auf Straßen und Plätzen noch mit Handglocke und kräftiger Stimme ausgerufen wurden, es am Ende manchmal beiläufig hieß, noch heute am Abend wird es in diesem Jahr den ersten Schnee geben. Um an Pflichten zu erinnern, Gehwege und Straßen sorgsam zu räumen und Salz zu streuen.



Niemand mehr verkündet in Sondershausen den ersten Schnee. Die Menschen haben über die Jahre ein feines Empfinden entwickelt dafür, was ihnen demnächst wohl das Wetter bringen wird. Jeder spürt das Herannahen des Regens oder den Herbststurm und eben auch das sanfte Herabfallen des ersten Schnees. Man kann ihn mit der Nase wahrnehmen und am frühen Morgen bereits riechen, den ersten Schnee, den es am Abend oder in der Nacht dann tatsächlich geben wird. Wer am Tag hin und wieder zum Himmel aufschaut, kann dort, wo sich in der Ferne Erfurt erahnen läßt, die langsam herannahenden Schneewolken sehen, oder sie ziehen von Frankenhausen herauf. Und nach langer Nacht sind am anderen Morgen Schul- und Arbeitswege verschneit, die Straßen und Gassen, alle Winkel, Vorgärten und Plätze, die Dächer der Stadthäuser mit Watte aus Schneekristallen bedeckt, gleichsam Markt, Ratshäuser, Schloß und Park, der Friedhof und das Brückental, das Jechator und der Franzberg, wie von Zauberhand mit einer weißen sanften Schneedecke überzogen, daß es dann doch wieder jeden das Herz mit kindlicher Freude beglückt.



Und die Kinder selbst, die ganz Kleinen, die zum ersten Mal in ihrem Leben gewahr werden, welch seltsame Schönheit sich vor ihnen unverhofft ausbreitet, werden es wiederum ein Leben lang nicht vergessen, daß man daraus auf den verschneiten Wäscheplatz einen Schneemann rollen und formen kann, mit kleinen Kohlestückchen für die Augen und den Mund und einer Möhre für die Nase, obenauf der Hut. Früher schrieb jemand das Jahr auf eine Schiefertafel, setzte sie vor den Schneemann und fertigte ein Erinnerungsphoto. Die Kinder darauf kramen es später einmal hervor, wenn sie selbst alt geworden sind.



Die Kamera ist verpackt, und nun geht es mit dem Schlitten zum Rondell hinauf und wieder hinunter in die Stadt, bis zum Beginn der Possenallee. Und gleich noch einmal von vorn, noch einmal atemlos hinauf und mit Freude wieder von oben talwärts, hinab bis zum Ende des langen Possenwegs, in schneller Fahrt. Bis alle müde sind und in der Abenddämmerung mit leuchtenden Augen und roten Wangen nach Hause gehen.



Mit dem ersten Schnee, ob er im November bereits kam oder erst im Dezember, ob es nun im hundertjährigen Kalender für Sondershausen so vermerkt war oder nicht, beginnt die Vorweihnachtszeit, die stille Zeit mit den Erinnerungen, wie es früher einmal war. Alles Denken und Handeln läßt sich in dieser Zeit von nachdenklicher Sanftmut leiten, aller Streit ist vergessen, und die Erwachsenen werden wieder zu Kindern. Darüber sind wir einen ganzen Monat lang froh, wem es gegeben ist, sogar ein ganzes Jahr, auch in Sondershausen.



HUBBERT APPENRODT



Zum zweiten Adventssonntag

Vom vorweihnachtlichen Zauber in der Kindheit und vom vorweihnachtlicher Glanz und Leuchten in der Stadt




Von HUBERT APPENRODT

Wenn im rotgelben Herbst die letzten Laubfeuer, für uns Kinder die Kartoffelfeuer, in den kahlen Gärten erloschen waren und die Mütter allen Rauch aus den Sachen ausgewaschen, wenn die Nebel keine Lust mehr auf den November hatten und keiner mehr am dunklen Novemberabend ein Gruselmärchen erzählen wollte, weil nun eine ganz andere Zeit langsam in unsere Herzen vordrang, verbreiteten sich in der Stadt noch vor den Dezembertagen hierfür unübersehbar die ersten Anzeichen. Die Vorweihnachtszeit mit ihrem ganz eigenen Glanz, ihrem Schimmern und Leuchten war gekommen und verbreitete sich auf allen Straßen und Plätzen, auf den Märkten und in jeder Gasse, leuchtete in den Schaufenstern auf und drang in alle Häuser und Wohnstuben. Die langen, langen Tage der Erwartung, der Vorfreude auf das schönste Fest im Jahr waren gekommen.

Ab nun gab es in der Stadt viel zu sehen und zu bewundern. Am schönsten war es beim Heimgehen in der Abenddämmerung, wenn das warme gelbe Licht der Schaufenster die Gehwege erleuchtete, mit dem vorfestlichen Straßenlicht. Und was gab es nicht alles zu bestaunen. Ob nun bei Bäcker Braun oder Bäcker König auf dem Planplatz, bei Bäcker Müller oder Bäcker Hengstermann oder in den Auslagen von Bäcker Axt, ihre Familienbetriebe hatten sich in Weihnachtsbäckereien verwandelt, von nun an mit Lebkuchenherzen und Weihnachtsstollen in den Auslagen, mit Weihnachtsplätzchen und Pfefferkuchenhäuschen, als Blickfang die Herberge mit Maria und Joseph und dem Jesuskind, gleichfalls aus Backwerk, bewundert von den Hirten, beschützt und behütet von den Engeln über ihnen und beschenkt von den drei Königen aus dem Morgenland, alle aus Lebkuchen. Das alles nahmen wir wohl wahr, verweilten aber nicht lange vor dem Schaufenster und eilten schnell zu den Spielzeugläden. Sie hatten sich über Nacht in weihnachtsschöne Märchenlandschaften verwandelt, der große Spielzeugladen gegenüber den Haushaltwaren, aber auch das kleinere Geschäft von Herrn Opitz in der Hauptstraße weiter oben. Die Überfülle und Farbenpracht in den Auslagen ließ unsere Kinderherzen höher schlagen, und wir verweilten lange vor den Schaufenstern, ob es nun kalt war, nieselte oder erster Schnee fiel, das war uns gleich.

Kein Geschäft in diesen Tagen, in der Ober- oder Unterstadt, das sich nicht auf die Tage im Advent und das bevorstehende Fest eingestellt hatte. Ob nun Schuhhaus Zander oder der Uhren- und Schmuckladen Scholz, ob das Möbelhaus Faßheber oder Friseurgeschäft Kirchner, selbst die Apotheken und Optikerläden ließen im Schaufenster zwischen ihren Angeboten die Vorweihnachtszeit aufleben. Auch das kleine Geschäft für Fahrräder und Zubehör in der Hauptstraße von Frau Schwarzkopf, einer freundlichen Frau, die immer lächelte, aber manchmal vielleicht doch auch ein bißchen traurig war. Überall waren nun grüne Tannenzweige zu sehen, behangen mit Gold- und Silberfäden, versehen mit Glöckchen und roten Kerzen, rechts und links mit Wichteln und Zwergen, dazwischen wachsame Hirten, schwebende Engel und Weihnachtsmänner mit Rauschebart, über allen silberne und goldene Weihnachtsterne. In den Papierwarenläden lag jetzt das Weihnachtssortiment obenauf, Weihnachtspapier und Weihnachtskarten, die roten Schleifen und Bänder, die bunten Weihnachtsteller für die Äpfel und Apfelsinen, für die Nüsse und Süßigkeiten unterm Tannenbaum. Nicht fehlen durften die Nikolausstiefel für den sechsten Dezembertag. Im Blumengeschäft Spieß waren Adventskränze erhältlich, die Weihnachtsbäume selbst gab es dann in der letzten Woche vor dem Fest auf dem Weihnachtsmarkt.

Wohl jeder wurde in dieser Zeit vom Zauber der Vorweihnachtszeit erfaßt. Am meisten wir Kinder. In den Wohnstuben war es warm und behaglich. Jeder Morgen im Dezember war ein erwartungsfroher Dezembermorgen, der Wunschzettel war längst fein säuberlich geschrieben, jede Stunde am Tag war mit Frohsinn gefüllt, der Abend war den Märchen und alten Erzählungen vorbehalten. In manchem Jahr fehlte zur Vollkommenheit nur der erste Schnee. In der Erinnerung ist er immer da. Da steht das staunende Kind hinter dem Fenster mit leuchtenden Augen und ruft, es schneit, es schneit.


Zum dritten Adventssonntag

Von sorgsamen Weihnachtseinkäufen früher
und dem Adventskalender aus dem Kindermagazin


Von HUBERT APPENRODT

Zum Vorbereiten auf die Weihnachtstage gehörten die Einkäufe. Die Geschenke besorgte unsere Mutter allein. Sie sollten ja am Heiligabend für jeden eine Überraschung sein. Die anderen Einkäufe erledigte ich aber zusammen mit ihr. Lag Schnee, banden wir einen größeren Korb auf einen Schlitten, lag keiner, nahmen wir zum Einkauf einen kleinen Handwagen mit.



Wenn der Tag gekommen war, wartete meine Mutter, bis ich aus der Schule kam. Dann gingen wir gemeinsam in die Stadt. In der Fleischerei am Planplatz bei Frau Schwarzkopf und Frau Steinmark bestellten wir den Festbraten. Das wurde mit einem Bleistift sorgfältig im Kundenbestellbuch notiert. In der Drogerie Merx ertönte beim Betreten des Geschäfts ein Glöckchen. War kein Kunde im Laden, kam Frau oder Herr Merx aus der etwas höheren Wohnung das kleine Treppchen zum Verkaufsraum herunter. Wir suchten die Weihnachtskerzen aus und nahmen loses Vogelfutter und Meisenringe für die Vögel mit, die über den Winter zu uns ans Fensterbrett kamen, manchmal auch Kernseife und Waschpulver für die letzte Wäsche im Jahr. Bei Bäcker Müller nur wenige Meter weiter kauften wir die Hefe für die Weihnachtsstollen. Bei den Geschwistern Kurze, neben dem Zigarettengeschäft und der Lottoannahmestelle von Paula Krause, gab es das Geschenkpapier und die roten Bänder zum Verschnüren. Danach gingen wir zur anderen Straßenseite hinüber, zum Lebensmittelgeschäft Hoffman. Hier kauften wir die Zutaten für die Weihnachtsplätzchen und für fünfzehn Stollen, deshalb der Korb auf dem Schlitten oder der kleine Handwagen. Der letzte Stollen wurde Ostern verzehrt. Hatte man Glück, gab es alle Zutaten, Mehl und Zucker, Nüsse und Mandeln, Rosinen und Zitronat. Bei Emmi Weide am Markt kaufte meine Mutter einen Nußknacker aus dem Erzgebirge für meinen Bruder. Daran kann ich mich noch erinnern. Bei Tetzlaff gegenüber dem Cafe Pille erwarben wir die Weihnachtskarten, auf der Hauptpost die Weihnachtsmarken mit Märchenmotiven. Die waren in jedem Jahr sehr schön.

Und dann kam für mich der schönste Augenblick, am Zeitungskiosk gegenüber der Post legte ich fünfzig Pfennige für das Kindermagazin „Fröhlich sein und Singen“ auf den Teller, das alljährlich einen wunderbaren Adventskalender enthielt. Wenn man ihn zu Hause aufschlug, entfaltete sich entweder eine kleine Stadtlandschaft mit erleuchteten Fenstern und Schnee auf den Dächern oder eine verschneite Waldlichtung mit Tieren an einer Futterkrippe. Und vierundzwanzig ungeöffneten Fenstern. War das letzte am Morgen geöffnet, schlug das Herz höher, und die Stunden bis zum Abend wollten einfach nicht vergehen. Dann war es doch soweit: „Jetzt könnt ihr kommen“, sagte unsere Mutter, und wir betraten mit klopfenden Herzen das Weihnachtszimmer. Und kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Alle Kerzen brannten, und jede schenkte dem Raum ein wunderbares Licht. Unter dem geschmückten Weihnachtsbaum lagen die Gaben für uns Kinder, über die wir uns immer freuten. Unsere Eltern freuten sich mit uns über die erfüllten Wünsche und auch über unsere Dankbarkeit, denn wir hatten auch Geschenke für sie. Wir sangen immer ein Weihnachtslied, mein Bruder Klaus spielte dazu auf dem Klavier. Dann gab es Kartoffelsalat mit Wiener Würstchen, in jedem Jahr. Zu Bett gingen wir erst, wenn wir müde waren. Das durften wir an diesem Abend und konnten kaum einschlafen und standen früh auf, weil es zu schön war, mit den neuen Geschenken zu spielen.

An beiden Weihnachtstagen kam immer Besuch, meine Großmutter, Onkel und Tanten Cousins und Cousinen, am zweiten Tag Freunde und Bekannte. Dann bauten wir Kinder manchmal die Eisenbahn auf und ließen sie um den Besuch herumfahren. Ich hörte gern den Gesprächen der Erwachsenen zu. Es gefällt dem Himmel, wenn die Menschen einander Freude schenken und einander achten. Dem Jesuskind in der Krippe brachten die drei Könige aus dem Morgenland als Geschenke Gold, Weihrauch und Myrrhe. Deshalb ist auch heute noch Weihnachten ein Fest besonders für die Kinder. Jedes Kind ist für Vater und Mutter ein kleiner Heiland. Das ist auch in Sondershausen so.

 



 

Montag, 7. März 2016


Zum vierten Advent

Von Weihnachtsfeiern und vom Leuchten
des großen Weihnachtssterns im alten Krankenhaus 


Von HUBERT APPENRODT


Einmal war wieder alles um das Haus herum dick verpackt mit Schnee, da wachte ich am frühen Morgen auf, sah zum Fenster hinaus und freute mich darüber, zog mich rasch an, nachdem ich mich gewaschen hatte, und verließ gleichfalls dick verpackt das Haus, ging munter die eine Treppe herunter und dann auch noch die andere. Beide gehörten zum Haus hinterm Krankenhaus, in dem wir wohnten, und führten hinab zum Fahrweg des Krankenhauses.


Die Luft war so klar, der Schnee so weiß, daß zum vollkommenen Winterglück eigentlich nur noch silberne Klänge in der Luft gehört hätten. Aber auch so konnte man sich über die prachtvolle Ankunft des Winters freuen. Am hinteren Eingang zum Krankenhaus, dort, wo die Krankenwagen hielten und die Patienten auf Tragen zur Aufnahme gebracht wurden, blieb ich stehen. Ich sah, wie Herr Aschoff, der sich um alle Hofarbeiten kümmerte, zusammen mit Herrn Baumbach, dem Heizer, eine große Leiter aufstellte, um im Vorraum hoch oben an der Decke wie in jedem Jahr den großen Weihnachtstern anzubringen. Herr Baumbach hielt die Leiter fest, und Herr Aschoff stieg hinauf und wechselte vorsichtig die runde Glaskugel gegen den großen Weihnachtsstern aus. Der leuchtete von nun an jedem entgegen, der in den Dezembertagen und über Weihnachten im Krankenhaus verbleiben mußte und vermittelte allen vielleicht auch ein wenig Trost und Zuversicht. All die Jahre hatte ich nie gesehen, wer eigentlich den Stern anbringt. Immer wenn ich am ersten Dezember aus der Schule kam, leuchtete er bereits. Und mit seinem wunderbaren farbenfrohen Licht begann nun auch für mich jedesmal die Vorweihnachtszeit, und ich freute mich auf die kommenden Adventssonntage und auf das Weihnachtsfest selbst.



In jedem Jahr gab es für die Kinder der Schwestern, Pfleger und Ärzte und alle anderen Angestellten eine kleine Weihnachtsfeier. Dafür wurde der große Kulturraum in einem Nebengebäude des Krankenhauses sorgfältig hergerichtet. An langen Tischen saßen dann am Nachmittag die kleinen Weihnachtsgäste erwartungsfroh vor ihnen Tellern mit Plätzchen und Stollen, in der Tischmitte Riesenkannen mit Kakao. Vor der Bescherung erwarteten wir Kinder gemeinsam mit den Eltern das kleine Märchenspiel, das in jedem Jahr gegeben wurde. An Rotkäppchen und der Wolf kann ich mich erinnern. Die Rollen hierfür hatten einige Lehrschwestern einstudiert. Aber bevor alles begann, kam nach einer Begrüßung bedächtig der kräftige Chefarzt Doktor Grauling zur Tür herein, setzte sich ans Klavier und spielte zwei Weihnachtslieder, wozu einige Schwestern sangen. Dann brach Rotkäppchen zwischen aufgestellten Tannenbäumchen zur Großmutter auf, traf unterwegs auf den Wolf, ein Ungemach folgte dem anderen, aber alles nahm doch noch ein gutes Ende, nachdem der Wolf im Brunnen festsaß. Die Großmutter war wieder frei, Rotkäppchen nicht mehr in Gefahr, der Jäger ein Held- Wir atmeten alle erleichtert auf. Und dann, mitten in die Stille hinein, klopfte es laut an die Tür, mehrmals, und laut. Die Tür öffnete sich, herein kam im roten Mantel, mit langem weißem Bart, die Rute in der Hand, den Sack auf dem Rücken, der Weihnachtsmann, wir hielten den Atem an, jedesmal. Das Christkind begleitete ihn und half beim Verteilen der Geschenke, die die Eltern eine Woche vorher im Krankenhaus abgegeben hatten. Jedem klopfte das Herz, dem  Weihnachtsmann konnte man sich, wenn man aufgerufen wurde, nur ehrfurchtsvoll nähern, und schnell ging es wieder nach einer Verszeile erlöst und frohen Herzens mit dem Päckchen zum Platz zurück.

Eine andere Weihnachtsfeier war besonders gelungen und fand im Saal des Jugendklubhauses statt, weil die Anzahl der kleine Gäste von Jahr zu Jahr zunahm. Auf der Bühne öffnete sich der Vorhang, und alle waren sogleich still. Gegeben wurde ein Krippenspiel, gut ausgeleuchtet und in wunderbaren Kostümen. Die Engel weckten die Hirten auf freiem Feld, die aufbrachen, um das Jesuskind in der Herberge aufzusuchen, behütet von Joseph und Maria, die es eben auf die Welt gebracht hatte. Die drei Könige aus dem Morgenland kamen und brachten als Geschenke Gold, Weihrauch und Myrrhe. Zum Schluß dankte ein Chor dem himmlischen Geschehen auf Erden mit einem alten Weihnachtslied. Eine Köchin aus dem Krankenhaus hatte die Maria gespielt, ihr stets freundlicher, aber stiller Mann, der ein wenig hager war, den Joseph. Als wären beide dafür auf die Welt gekommen, nie wieder sah ich eine bessere Maria, nie eine besseren Joseph. Und das blieben beide auch für mich, bis ins Erwachsenenalter hinein, bis heute. Sooft ich auch später der Köchin und ihrem Mann begegnete, immer sah ich in ihnen Maria und Joseph aus dem Geschehen in der Herberge. Vielleicht hätte ich das beiden auch einmal erzählen sollen, es hätte sie vielleicht gefreut.
 

Sonntag, 6. März 2016





Wie das neue Jahr nach Sondershausen kommt
  

Für Erwachsene und Kinder zum Jahreswechsel



VON HUBERT APPENRODT


Die Erwachsenen, die glauben alles zu wissen, weil sie erwachsen sind, haben es ihren Kindern bereits mehrmals erklärt, geduldig und in schönen Worten, und so wissen es die Kinder auch. Wenn die Glocken läuten und Raketen zum Himmel aufsteigen, ist das neue Jahr da, und der neue Kalender kann aufgehängt werden. Einige jedoch wollen es dennoch genauer wissen und fragen immer wieder: Wie aber kommt denn nun das neue Jahr wirklich nach Sondershausen? In jedem Jahr fragen das einige Kinder. Dabei ist es ganz einfach. Wer will, kann es selbst erfahren. Es ist nicht schwer. Wer sich am letzten Tag des Jahres einen guten Platz sichert und bis nach Mitternacht hellwach bleibt, bekommt alles haargenau mit.

Am letzten Dezembertag erwacht wie an allen Tagen zuvor das alte Jahr im Schloßturm, macht sich frisch und schnürt ohne große Umstände sein Bündel, steigt die Turmtreppe herab, überquert den Schloßhof mit Herkulesbrunnen und kommt dann bedächtig die Schloßtreppe herunter. Im Dienstzimmer des Bürgermeisters erhält es am späten Nachmittag ohne viel Aufhebens die Abdankungsurkunde. „Das war’s dann wohl“, sagt der Bürgermeister. „Vielen Dank, bis zum nächsten Jahr!“ Das alte Jahr nickt und sagt: „Es war sehr schön hier an all den Tagen in Sondershausen.“ Nach einem Gläschen aus einer guten Flasche ist dann die Zeit für den endgültigen Aufbruch gekommen. Nach besiegeltem Abschied und Händedruck bricht das alte Jahr mit ein wenig Wehmut im Herzen auf und verläßt die Stadt, überquert den Markt, erreicht die Lohstraße, weiter geht es in Richtung Hauptbahnhof, zum Franzberg hoch. Ist der Jechaburger Weg dann auch noch genommen, verschwindet es ganz langsam hinter dem Frauenberg. Jetzt ist die Zeit für das neue Jahr gekommen.

Das neue Jahr kommt frisch und munter im Königsmantel die Hainleite herunter, gut gelaunt und erhabenen Schrittes, weil es jung ist, schön anzusehen, heiter und frohen Mutes. Der klirrend schöne Januar indessen erreicht von der Windleite her über die Hardt die Stadt, in einem weißen Mantel, festen Schrittes und mit wehenden Haaren, gelegentlich im Schneegestöber. Auf dem Markt treffen beide auf Herrn Silvester, der hier seit geraumer Zeit auf sie wartet. Nachdem alle einander begrüßt haben, schreiten sie zur Alten Wache hinüber. Und jeder schreibt seine Zahl, die er sich vorher ausgedacht hat, mit weißer Kreide an die große Holztür. Die vierte Zahl schreibt ein Sondershäuser Kind, das hierfür auserwählt worden ist, als letzte Ziffer an die Tür. Noch nie gab es Beschwerden. Immer stand anderntags die richtige Jahreszahl an der Tür und konnte ohne Beanstandung ein ganzes Jahr lang auf allen Briefbögen und Urkunden verwendet werden.

Nach Verrichten der kleinen Arbeit an der Alten Wache, geht jeder dann wieder seiner eigenen Wege. Herr Silvester kehrt nach Rom zurück und verabschiedet die Glocken, die die Weihnachtstage im Petersdom verbrachten. Nach ihrer Ankunft in Sondershausen läuten sie das neue Jahr ein. Während das neue Jahr im Königsmantel die Schloßtreppe hinaufgeht, denkt sich der Januar im weißen Mantel etwas für den Neujahrsmorgen aus. Vielleicht  läßt er diesmal zur frühen Stunde Schnee für die Kinder zum Schlittenfahren herabfallen und den Parkteich zufrieren, oder er malt Eisblumen an die Stubenfenster. Nur das auserwählte Kind hat es ein wenig schwerer. Wenn es den Eltern am Neujahrsmorgen erzählt, was es in der Nacht erlebt hat, sagen sie: Ach, das hast du nur geträumt. Obwohl auch sie wissen, daß Kinder immer die Wahrheit sagen.

Am frühen Neujahrsmorgen, wenn noch alle schlafen, überquert dann der Bürgermeister den Markt und notiert an der Alten Wache in sein Bürgermeistermerkheft die neue Jahreszahl, für die er dann in seiner dafür vorbereiteten Amtsstube in sorgfältiger und angemessener Schönschrift eine Urkunde ausstellt. Die hängt er dann für jeden Bürger sichtbar am Rathaus aus. Das Jahr mit Wohnrecht im Schloßturm ist dann für die Stadt Sondershausen amtlich gültig. Der Bürgermeister tritt einen Schritt zurück, betrachtet noch einmal die Urkunde, ob alles stimmt, kein Zahlendreher, und geht dann, die ersten Strahlen der frühen Morgensonne erreichen die Stadt, zufrieden nach Hause, um sich am Nachmittag bei einer Tasse Kaffee, handgemahlen, im Kreise seiner Familie neues für die Stadt auszudenken. Das ist in jedem Jahr so. Noch nie war es anders.