Wie
der Frühling nach Sondershausen kommt
Mit einer ehrenvollen
Erinnerung an einige Sondershäuser Bürger von damals und heute und zum Andenken
an den verdienst- wie auch humorvollen Redakteur von einst Karl-Heinz Meyer
Von HUBERT APPENRODT
Ob nun jemand gerade traurig auf dem Sofa sitzt oder die
Fenster und sein Herz weit geöffnet hat, ob nun einer verzagt oder helle Freude
am Leben empfindet, ob nun einer gesund ist oder mit Fieber krank im Bett
liegt, ob nun einer lebt oder glaubt, bereits gestorben zu sein - das Frühjahr
kommt ja doch. Auch nach Sondershausen. Aber nicht, wenn der Frühling nicht
angemessen empfangen wird.
Vor vielen Jahren tagte wieder einmal das Sondershäuser
Frühlingsempfangskomitee im Gasthaus zur Sonne, faßte nach langwierigem Hin und
Her zur späten Stunde einen Beschluß, versäumte aber anderntags, dem
Auserwählten fristgerecht den wichtigen Empfangsauftrag auch mitzuteilen. Weil
sie in fröhlicher Runde und aus menschlicher Schwäche zuviel Tee mit Rum aus
Kuba getrunken hatten. Es war ja noch Winter und kalt. So kam zwar Wochen
später munter und frohen Schrittes der Frühling zur vorgesehenen Stunde auf der
Chaussee von Frankenhausen her auf die Kreisstadt zu, aber niemand war zum
Empfang erschienen. Als der junge Frühling das sah, beschloß er kurzerhand,
Sondershausen zu umgehen. Und so kam es, daß wenige Wochen später zum ersten
Mai noch einmal Schnee auf die Ehrentribüne der Arbeiterklasse herabfiel und
auf ihre hohen Gäste und die Blasinstrumente der Bergmannskapelle. Das sonst
kraftvoll geschmetterte „Glückauf“ fiel diesmal musikalisch kühl aus. Und auch
das allgemeine Anbaden Mitte Mai mußte in jenem Jahr notgedrungen auf August
verlegt werden. In der Zeitung war zu lesen, daß jene mit Veilchen am Revers
mit zuviel Rum im Tee getagt hätten und Schuld am Durcheinander der
Jahreszeiten trügen. Darüber beklagen sich die ehemaligen Komiteemitglieder
noch heute bei Veteranentreffs im Altstadtcafe, erkennbar an den blauen
Ehrenveilchen.
Mit einem Sprung aus dem weichen Federbett waren im Nu auch
rasch alle Morgenangelegenheiten verrichtet. Die Haare gekämmt, die Krawatte
gerichtet, da ging Redakteur Meyer schon leichten Schrittes auf der Chaussee
dem Frühling entgegen, der, heiteren Gemüts von Frankenhausen kommend, sich
noch vor seinem Erscheinen mit einem Sonnenstrahl ankündigte. Sogleich lag über
der kleinen Landschaft ein Zauber, wie er frohen Herzens vom Himmel nur an
einem Frühlingstag verschenkt werden kann. Redakteur Meyer blieb stehen, sah
sich um und erfreute sich still und beglückt an der erhabenen Schönheit dieser
frohen Morgenstunde, in Erwartung des Frühlings. Dem ersten warmen Sonnenstrahl
folgten weitere, und über den sanften Hügeln vor Berka ging allmählich die
Sonne auf, bis schließlich auch er, der Lenz, zu sehen war - ein junger
Bursche, frühlingshaft mit wehendem Blondhaar, mit hellem, fröhlichem Gesicht,
leuchtenden blauen Augen und einem Wanderstab mit Frühlingsbändchen.
Redakteur Meyer hieß den Frühling sogleich im Namen der
Stadt, der Lokalseite und ihrer Leser herzlich willkommen. „Danke!“ sagte der
Frühling und freute sich über die freundlichen Worte. – „Darf ich einige Fragen
stellen?“ Beide gingen nun nebeneinander auf die Stadt zu. „Welches Grün hat
der Frühling in diesem Jahr für die Windleite ausgesucht?“ – „Es bleibt beim
dunklen Grün nach den Vorgaben des Huflattichs aus dem Farbenbuch des
Frauenbergs.“ Redakteur Meyer notierte Huflattich, ein helleres Grün ist für
die Hainleite und ein wunderbares Gelb für die Kornfelder. – „Für die
Kornfelder?“ – „Die Farbe für das Getreide bringe ich immer mit, nicht der
Sommer. Der ist nur für die Reife zuständig, für die Wassertemperaturen im
Bergbad, für Regen, Gewitter und Sonnenschein.“ Der Frühling hielt inne
und sah Redakteur Meyer streng an: „ Das
steht auch immer wieder falsch in der
Zeitung.“
Redakteur Meyer errötete: „Der Volontär. Einmal ich. Wir
geloben Besserung.“ – „Dafür wird niemand mehr heutzutage in Ketten gelegt“,
sagte der Frühling in versöhnlichem Ton, „obwohl es vielleicht manchmal helfen
könnte.“ Da waren beide auch schon bei den ersten Vorgärten angekommen. „Welche
Gesänge werden unsere gefiederten Freunde in den Gärten, Parks und auf weiter
Flur“, Redakteur Meyer holte tief Luft, „und in den Wäldern“, er holte noch
einmal Luft, „in diesem Jahr vielleicht sogar in Konkurrenz zum Lohorchester
darbieten?“ – „Es bleibt vorerst bei den alten Gesängen, mit Aussicht auf neue
Strophen vielleicht in fünfzehn Jahren.“ – „Das wäre dann ein neuer Gesang um
1989 herum“, notierte Redakteur Meyer nachdenklich und etwas verunsichert in
sein Redakteurmerkheft: „Abschließend, werden die Schwäne auf unseren Teichen
bleiben, die Stadt behüten und weiterhin für Nachwuchs sorgen?“ – „In
Sondershausen bringen nicht nur die Störche die Kinder zu ihren Müttern, sondern
in Zusammenarbeit mit den Schwänen. Sie werden also bleiben müssen.“ Redakteur
Meyer notierte: „Die Schwäne werden die Stadt weiterhin beschützen und mehren.“
Erleichtert klappte er sein Notizbuch zu: „Ich danke für das Gespräch.“
Am Ortseingangsschild hatte sich indessen der Bürgermeister
der Stadt aufgestellt, mit einem Blumenstrauß und einem Begrüßungstext,
auswendig gelernt, darin einige Bitten um Entschuldigung wegen des vorigen
Jahres, und Wünschen für die landwirtschaftliche Planerfüllung in diesem Jahr.
Redakteur Meyer, der sich vom Frühling bereits verabschiedet hatte, sagte dem
Bürgermeister im Vorübergehen Guten Morgen und eilte mit wehenden Rockschößen
in die Redaktion.
Hier angekommen, nahm er kerzengerade an seinem Schreibtisch
Platz, spannte ein neues weißes Blatt in seine alte Rheinmetall aus Sömmerda,
schaute zum Fenster vor ihm auf, durch die blitzblanken Scheiben hindurch,
hinauf zum blauen Himmel über Sondershausen und dachte beim tiefen Einatmen
über den ersten Satz nach.
Zur gleichen Zeit sangen im Unterrichtsraum neben der Aula
der Käthe-Kollwitz-Schule die Jungen und Mädchen einer dritten Klasse „Nun will
der Lenz uns grüßen“. Frau Rosenstiel begleitete sie dazu auf dem Akkordeon.
Die Schüler hatten sich zum Singen erhoben und konnten beim Gesang zum Fenster
hin über die Dächer von Sondershausen sehen, im Hintergrund erkennbar die
flachen Hügel der Windleite. Am Haus der Kunst stellte zu dieser Zeit Herr
Gertler aus dem Schersental sein Fahrrad ab und eilte mit seiner Violine zur
Orchesterprobe für Vivaldis Jahreszeiten, dessen Frühlingssatz am Abend in
einem Lohkonzert besonders schön erklingen sollte. In der Hospitalstraße
schaltet Schuldirektor Löhrius das Radio an: „Heute wollen wir einmal nicht
traurig sein“, drehte sich um und sagte leise zu seiner Frau: „Darf ich
bitten?“ Und beide schwebten zum Donauwalzer aus dem Radio in ihrem Wohnzimmer
um den großen Stubentisch herum. Wie in alten unbeschwerten Tagen, von denen
sie aber glaubten, sie seien für immer vergangen, weil sie vor Jahren ihren
kleinen Sohn verloren hatten. Als der Walzer verklungen war, sagte Frau
Löhrius: „Unser lieber Junge hat uns
eben zugesehen.“ –„Und sich gefreut. Er weiß ja, daß wir einmal bei ihm
sein werden.“ Im Kräuter- und Gemüsegarten indessen, den es damals noch am
Krankenhaus gab, unterbrach zur gleichen Zeit Herr Aschoff das Herrichten eines
Frühjahrsbeets und griff mit der Hand ins lockere Erdreich. Als ich bei ihm
stand, hielt er mir seine flache Hand mit der Erde entgegen: „Sieh mal, das ist
alles Leben. Darin ist soviel Leben.“ – „Ja“, sagte ich, „das hatten wir im
Biologieunterricht. Bei Herrn Henze.“ – „Heute ist Frühlingsanfang“, sagte Herr
Aschoff, „da erwacht alles Leben neu. Und dafür richte ich das Beet her.“
Im Redaktionszimmer hatte währenddessen Redakteur Meyer
seinen ersten Satz für die Zeitung in die Schreibmaschine getippt: „Seit
gestern haben wir auch in Sondershausen Frühlingsanfang.“ Einmal in Schwung,
war der kleine Zeitungsbeitrag für den nächsten Tag bald fertig: „Mit den
ersten Sonnenstrahlen über den Hügeln vor Sondershausen traf der Lenz zur
vorgegebenen Zeit ein und hauchte sanft der Windleite das erste Grün ein,
danach ließ er die Hügel der Hainleite ergrünen. Der Himmel war blau und
strahlte. In den Gärten wird es bald rot und blau blühen. Der Frühling wurde am
Stadtrand von unserem Bürgermeister empfangen. Im Rathaus schrieb er sich in
das dicke Buch der Sondershäuser Jahreszeiten mit schwungvoller Hand als Lenz
Frühling ein, mit dem Versprechen, im nächsten Jahr eine Nachtigall für den
Schloßpark und Lerchen für den Himmel über dem Possen mitzubringen. Im Park
wurde eine Amsel mit einem Halm im Schnabel gesichtet, im Hof der alten
Schäferei beim Gasthaus ‚Zum schwarzen Bären’ hielten Schwalben Ausschau für
den Nestbau. Die Schwäne auf dem Parkteich bezeugten einander ihre Zuneigung.
An einigen Bäumen im Park und in der Stadt zeigten sich die ersten Knospen.
Gestern war für uns alle ein schöner Tag.“
So war es am nächsten Tag fehlerfrei in der Zeitung nachzulesen.
In jedem Jahr kommt so der Frühling nach Sondershausen. Und
alles Leben erwacht neu. Nichts bleibt beim alten.